Idealgewicht

Warum wir nie aufhören, abnehmen zu wollen

Rund 200.000 Österreicherinnen und Österreicher erkranken dem Gesundheitsministerium zufolge zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung. Tendenz steigend.
Rund 200.000 Österreicherinnen und Österreicher erkranken dem Gesundheitsministerium zufolge zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung. Tendenz steigend.Getty Images/Westend61
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Teenager wollen den „perfekten“ Body-Maß-Index, Senioren wieder in ihren Maturaanzug passen: Die Sehnsucht nach dem vermeintlichen Idealgewicht scheint präsenter denn je – und treibt die Zahl der Menschen, die an Essstörungen leiden, nach oben.

Jede und jeder kann den „perfekten Körper“ haben, solang „das Mindset“ stimmt und „die richtige Diät“ befolgt wird. So steht es in Illustrierten und so predigen es Influencer auf TikTok und Instagram. Dazu präsentiert werden Aufnahmen wohlgeformter Taillen, gediegener Bauchmuskeln, sehniger Arme und Beine.Beigefügt sind gleichsam Formeln zur Berechnung des „Idealgewichts“ mithilfe des Body-Mass-Index und Rezepte „für die schnelle Bikinifigur“.

Allein: „Wir haben unser Erscheinungsbild und unser Gewicht nicht so unter Kontrolle, wie suggeriert wird“, sagt Ernährungspsychologin Irene Niedermayer. Die Frage, wie viel ein Körper wiegen, welche Lebensmittel er am effizientesten verstoffwechseln kann und welches Ausmaß an Sport förderlich ist, sei individuell zu beantworten. Allgemein gültig indes der folgende Befund: Abnehmen ist in unserer Gesellschaft zu einem Lebensthema geworden. Mit fatalen Folgen.

„Es beginnt mit unpassenden Begriffen, geht weiter mit zweckentfremdeten Modellen und endet in essgestörten Verhaltensweisen“, sagt Niedermayer. So würden seit Jahren falsche Übersetzungen umgehen – anstatt von Ernährung sei von Diäten die Rede, da das englische Wort „diet“ ins Deutsche „gespiegelt“ werde. „Das führt dazu, dass es uns stresst, wenn wir mehr oder anderes essen, als vorgegeben“, sagt die Klinische Psychologin.

Das schlechte Gewissen kurble wieder die Produktion des Hormons Cortisol an, das Muskelauf- und Fettabbau hemmen, den Insulinspiegel senken und so ein stetiges Hungergefühl auslösen kann. Verkürzt gesagt: „Der Weg ist günstig für essgestörtes Verhalten, das zu Essstörungen führen kann.“

Eingeschlagen wird er immer öfter: 2015 ging das Gesundheitsministerium davon aus, dass 200.000 Österreicher zumindest einmal in ihrem Leben an einer Essstörung erkranken – eine Verzehnfachung der Betroffenen binnen 20 Jahren – Tendenz weiter steigend, wie eine kanadische Metastudie vom April 2022 nahelegt. Demnach erhöhte sich die Häufigkeit von schweren Essstörungen während der Coronavirus-Pandemie um knapp die Hälfte. Die häufigste von ihnen trägt den Namen „Binge Eating“, betrifft Männer wie Frauen und ist geprägt von Heimlichkeiten, Essattacken und Stimmungsschwankungen.

Emotionaler Hunger. Ein Teufelskreis, von dem Olivia Wollinger zu erzählen wie auch in ihrem Buch „Essanfälle adé“ zu schreiben weiß. „Es gab Zeiten, da konnte ich nicht einmal Grundnahrungsmittel wie Haferflocken, Reis oder Nudeln zu Hause aufbewahren, ohne den ständigen Drang zu verspüren, sie aufessen zu müssen.“ Auch auswärts überfiel sie der Hunger: „Ich habe etwas vergessen, ich komme gleich“, lauteten ihre Ausreden, wenn sie Zeit brauchte, um etwas in sich hineinzustopfen. „Jedes Mal versprach ich mir, ab nun nie wieder verbotene Nahrungsmittel zu essen“, doch die nächste Attacke war nur eine Frage der Zeit.

Dazwischen versuchte sie Unterschiedlichstes, um sich abzulenken: Sie trank mehr Tee, telefonierte öfter mit Freunden. Teils verlor sie so einige Kilogramm, „wohler fühlte ich mich aber nicht“, erinnert sich Wollinger. Es dauerte, bis sie erkannte, dass die scheinbar idealen Zahlen auf der Waage den „emotionalen Hunger“ nicht stillten.

„Es gibt kein Idealgewicht, aber ein Normalgewicht“, sagt Maria Wakolbinger vom Zentrum für Public Health an der Medizinischen Universität Wien. „Der Begriff Idealgewicht stammt aus den 1950ern und kommt von Lebensversicherungen in den USA, um zu sehen, wer in Über- und Untergewicht einzustufen ist.“

Die Formel lautet: Körpergröße minus 100, plus 15 Prozent bei der Frau respektive zehn Prozent beim Mann. „Sie ist völlig veraltet – wie der Body-Maß-Index (kurz BMI; berechnet durch Körpergewicht geteilt durch Körpergröße zum Quadrat, Anm.), der auch noch immer verwendet wird, weil er leicht zu berechnen ist.“

Beiden Systemen fehle jedoch die Aussagekraft für den Einzelnen: „Allein betrachtet, sind die Zahlen nur bedingt aufschlussreich“, so die Ernährungswissenschaftlerin. „Danach würde beispielsweise ein Bodybuilder in Adipositas und ein Marathonläufer in Untergewicht eingeteilt.“

Um bewerten zu können, ob jemand sein Ess- und Sportverhalten adaptieren sollte, sei es ratsamer, die genetischen Komponenten in den Blick zu nehmen, dazu das Verhältnis Muskel- zu Fettgewebe, den Wassergehalt, das Gewicht, die Größe, den Taillenumfang, das Alter und das Geschlecht. Das ergibt ein etwas aufwendigeres Verfahren, „das verständlicherweise wenige in Kauf nehmen“, sagt Wakolbinger.

Stattdessen vergleiche man sich mit anderen, obwohl diese andere Voraussetzungen mitbrächten. Das Resultat: „Die Menschen wiegen sich, berechnen den BMI und ziehen nicht immer die richtigen Schlüsse.“ Warum ist das so?

Die Antwort ist umfassend: Sofort nach der Geburt wird ein Baby gewogen, fortan jedes neue Gramm penibel vermerkt. „Das ist in Ordnung, denn es geht darum, dass das Wachstum überwacht wird“, sagt Psychotherapeutin Claudia Fuchs vom Kompetenzzentrum für Menschen mit Essstörungen Sowhat. Auch die Messungen in der Schule dienen dazu, etwaige Entwicklungsstörungen festzustellen. Denn: „In vielen Familien wurde und wird nicht ausreichend darauf geachtet, was, wann und wie viel die Kinder essen, daher ist es wichtig, dass die Schulärzte und der Staat ein wenig ein Auge darauf haben.“

Krank aus Sehnsucht. Spätestens mit der Pubertät würden die Bemühungen, ein gesundes Wachstum zu fördern, torpediert. „Es sind nicht nur Medien und Werbung, die dazu führen, dass Kinder ihre Körper nicht mögen, sehr oft sind nahe Angehörige schlechte Vorbilder“, sagt Fuchs. Sie machen Diäten, klagen über „Hüftspeck“ und ärgern sich, nicht mehr in den Maturaanzug oder das Hochzeitskleid zu passen. Dazu kämen Clips in sozialen Netzen, in denen definierte Körper präsentiert und damit „falsche Sehnsüchte“ geweckt werden: „Zwölfjährige vergleichen sich mit der 19-jährigen Sportstudentin oder dem 22-jährigen Gewichtheber – Ziele, für die sie schon rein physiologisch gesehen zu jung sind“, warnt Fuchs. Tatsächlich zeigen zu viel Verzicht und zu viel Training nicht nur auf der Waage Auswirkungen, sondern auch bei der hormonellen und physischen Entwicklung. „Die Geschlechtsreife wird verzögert, die Körper formen sich nicht richtig aus, da sie ständig mit Mängeln während des Wachstums konfrontiert sind“, so die Therapeutin.

Etwas Unerfülltes. Zudem kreisen die Gedanken der Betroffenen ständig um das Essen, gepaart mit Vorwürfen und Selbsthass: „Es ist eine Symptomatik, die mit dem Wunsch nach Erleichterung, Entspannung und starken Glücksgefühlen in einer schwierigen Phase verbunden ist – vergleichbar mit der Abhängigkeit von Alkohol, Glücksspiel oder Sex“, sagt Fuchs. Kaum verwunderlich, stecke schon im Namen Esssucht die Sucht, die sich auch in der Sehnsucht finde: „Es geht stets um etwas Unerfülltes.“

„Ich habe erst gar nicht gemerkt, dass ich eine Binge-Eaterin war“, sagt Giulia, die anonym bleiben möchte. „Erst im Nachhinein wurde mir klar, dass ich fast alle Mahlzeiten durch Süßigkeiten ersetzt hatte.“ Insbesondere, wenn Emotionen oder Leistungsdruck sie zu überrollen drohten, griff sie zu Schokolade – und konnte kaum aufhören, sie in sich hineinzustopfen. Um sich die Kalorien nicht anmerken zu lassen, betrieb sie kurz darauf exzessiv Sport. Sie ging schwimmen, fuhr mit dem Fahrrad und war Stammgast im Fitnessstudio. „Es war wie eine doppelte Sucht: nach Süßem und nach Sport.“

Als sich Giulias Eltern scheiden ließen, vergaßen sie darauf, Idole zu sein: „Ich fühlte mich einsam und habe das mit Essen kompensiert“, sagt die Wienerin. Und zwar bis weit in ihre Zwanziger hinein. „Irgendwann habe ich dauerhaft gesnackt.“ Meistens nebenbei, im Gehen zwischen Terminen. „Ich hatte das Gefühl, dass nicht ich das Essen kontrolliere, sondern dass das Essen mich unter Kontrolle hat.“

Heute kennt die 34-Jährige auch die Diagnose zu ihrem Verhalten: Sie litt an einer atypischen Bulimie. „21 Monate lang war ich in Therapie und habe gelernt, was es heißt, bewusst zu essen“, sagt Giulia. Nicht nur ihr Speiseplan änderte sich, auch ihr „sichtbarer und unsichtbarer Rucksack“ verloren an Gewicht. Wie viel, weiß sie nicht: „Ich steige nicht mehr auf die Waage.“ Es zähle, dass sie sich energiegeladen und selbstbewusster denn je fühle. Eine Erfahrung, die auch Wollinger gemacht hat: „Das Leben ohne Esssucht kommt nicht über Nacht“, schreibt sie. „Wir wachen nicht eines Morgens mit einem völlig neuen Lebensgefühl auf.“Es brauche zig Schritte hin zu mehr Selbstfürsorge im Alltag und weg vom Selbsthass im Fall eines Rückschlages.

„Wir sollten das Gewicht haben, mit dem alles, was wir uns vornehmen, gut machbar ist“, sagt Ernährungspsychologin Niedermayer dazu. Dann kämen Vergleiche mit anderen nicht so leicht auf, da die Freude über das eigene Tun den Wunsch nach Bestätigung durch andere überwiege. Ein Zustand, für den es im Übrigen auch ein eigenes Wort gibt. Es lautet: Wohlfühlgewicht.

Störungen

Binge Eating Disorder bildet die häufigste Essstörung. Die Betroffenen leiden unter Essanfällen, die von Übergewicht bis Adipositas führen können.

Bulimie wechselt zwischen Hungern und Heißhungerattacken – teils gefolgt von Erbrechen, Abführmittelmissbrauch oder exzessivem Sport.

Anorexie (Magersucht) zeigt sich durch massives Untergewicht, herbeigeführt durch restriktives Essverhalten, Fastenperioden bzw. Erbrechen.

Adipositas bezeichnet Übergewicht in einem körperlich riskanten Ausmaß.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2023)

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