Die Ich-Pleite

Bald ist die KI aus dem Trotzalter heraußen

Carolina Frank
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Als ich zum ersten Mal von der künstlichen Intelligenz hörte, waren wir ungefähr gleichauf.

ChatGPT wird immer intelligenter. Als ich zum ersten Mal von der künstlichen Intelligenz hörte, waren wir ungefähr gleichauf. Beide haben wir die Matura gerade mal so geschafft. Doch ein paar Wochen ­später hat sie schon eine US-Anwaltsprüfung mit „Sehr Gut“ bestanden. Und während ich das schreibe, bastelt sie wahrscheinlich bereits an einem Nobelpreis. Fach egal. ChatGPT kann nämlich alles. Wahrscheinlich auch bald Wasser in Wein verwandeln oder Tote auferstehen lassen. Da fühlt man sich schon ein bisschen klein. Wobei man sagen muss: Beim Fühlen kann uns die KI noch nicht das Wasser ­reichen. Zum Beispiel kann sie keine Eifersucht empfinden, weil ein neuer Kollege jetzt plötzlich alle Kundenbriefe allein schreiben darf. Dazu hat sie auch keinen Anlass.

Sie ist nämlich jetzt der Star in unserer Firma. Abgesehen vom Chef natürlich. Der ist überzeugt, dass er jetzt endlich jemanden hat, der ihn versteht. Aber ich fürchte, da freut er sich zu früh. Denn die KI wird angeblich bald ein eigenes Ichbewusstsein entwickeln. So etwas mag unser Chef gar nicht. Bald soll sie reifemäßig zumindest auf der Stufe eines Dreijährigen sein. Also wie mein Chef. Eltern sagen, Dreijährige tyrannisieren ihre Umgebung und wollen alles allein machen. Eigentlich wie mein Chef. Da könnte es jetzt natürlich zu einem Machtkampf kommen. Ich weiß nicht, wie der Chef reagieren würde, wenn sich die ChatGPT eines Tages auf den Boden hauen und ­heulen würde wie eine Polizei­sirene, weil sie den Kundenbrief nicht noch siebzehn Mal umschreiben will. Nicht dass ich dann Schadenfreude empfinden würde. Im Gegenteil! Ich würde meinem Chef sagen: Bald ist die KI aus dem Trotzalter heraußen. Dann wird alles besser! Zumindest bis zur ­Pubertät. 

("Die Presse Schaufenster" vom 24.03.23)

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