Gastkommentar

Russland/China: Xi bestimmt, wo es langgeht

(c) Peter Kufner
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Bei seinem jüngsten Besuch in Moskau wollte der chinesische Machthaber offensichtlich nicht nur den Russen, sondern auch den Amerikanern zeigen, wer in der heutigen Welt das Sagen hat. Mao Zedong wäre erfreut.

DIE AUTORIN

Nina L. Chruschtschowa (*1964) studierte an der Moskauer Staatsuniversität und in Princeton. Sie ist Urenkelin des früheren Sowjetführers Nikita Chruschtschow. Derzeit ist sie Professorin an der New School. Zuletzt veröffentlichte sie mit Jeffrey Tayler „In Putin's Footsteps: Searching for the Soul of an Empire Across Russia's Eleven Time Zones“ (2019).

Trotz ihrer gemeinsamen kommunistischen Ideologie waren die Volksrepublik China und die Sowjetunion während des Kalten Kriegs nicht gerade enge Freunde und eingeschworene Partner. Unverfrorenes Konkurrenzdenken bestimmte diese Pseudopartnerschaft, als man sich wegen Mongolei und Mandschurei in die Haare geriet und um die Vorherrschaft in der kommunistischen Welt rang. Eine ähnliche Dynamik entfaltete sich auch anlässlich des jüngsten Besuchs des chinesischen Machthabers, Xi Jinping, in Moskau – allerdings mit einem entscheidenden Unterschied.

Natürlich arbeiteten die UdSSR und China in vielen Bereichen zusammen. Beide unterstützten die Kommunisten von Kim Il-sung im Korea-Krieg, und die Volksrepublik half, die Einflussbereiche des Kreml in Osteuropa zu wahren. (Albanien war China gegenüber loyal, während Josip Broz Titos Jugoslawien China als Druckmittel benutzte, um Zugeständnisse und Unterstützung aus dem Kreml zu erwirken.) Außerdem arbeiteten sowjetische Wissenschaftler und Ingenieure in China. 1957 erklärten sich die Sowjets bereit, der Volksrepublik beim Erwerb atomarer Kapazitäten zu helfen.

„Mao so paranoid wie Stalin“

Gleichberechtigte Partner waren China und die UdSSR aber nicht wirklich. Obwohl Mao Zedong sich als ebenbürtiger Partner Josef Stalins sah und meinte, die bäuerlichen Kommunisten dieser Welt anzuführen wie Stalin seine Proletarier, bezeichnete Stalin Mao angeblich als „Höhlenmarxisten“ und „talentlosen Partisanen“.

Als Mao 1949 zu Stalins Geburtstagsfeierlichkeiten nach Moskau kam, wurde er dort wie ein gewöhnlicher Gast behandelt. Stalins Verhalten erzürnte Mao. Doch in den 1940er- und 1950er-Jahren war China auf sowjetische Hilfe angewiesen, so dass sich Mao beugen musste, zumindest ein wenig.

Als mein Urgroßvater Nikita Chruschtschow nach Stalins Tod 1953 das Amt des Sowjetführers übernahm, revanchierte sich Mao für Stalins Geringschätzung. Nach der Rückkehr von seiner Reise nach Peking im Jahr 1958 sprach Chruschtschow unaufhörlich darüber, wie unangenehm seine Erfahrungen dort gewesen waren.

Er reagierte gereizt auf Maos Forderung, die Sowjetunion möge ihre Versprechen einhalten und China beim Aufbau seines Atomwaffenprogramms helfen. Und er beschwerte sich, dass Mao „rein gar nichts“ für die Sowjets getan habe, „nicht einmal Schiffen und Flugzeugen einen Halt auf seinem Gebiet erlaubt“, weil es Bedenken hinsichtlich der Souveränität gab.

„Einmal“, so erinnerte sich Chruschtschow, gelangten die Chinesen „in den Besitz einer amerikanischen Rakete“. Aber Mao, der „genauso paranoid wie Stalin“ war, ließ die sowjetischen Ingenieure nicht einmal in die Nähe dieser Rakete.

Ein Gipfel im Schwimmbecken

Chruschtschow nahm Mao auch die Einladung zu einem „Gipfeltreffen im Schwimmbecken“ in Peking übel. Noch schlimmer: Mao, der seinen sowjetischen Kollegen in so einer Umgebung im Nachteil sah (obwohl Chruschtschow ein ebenso guter Schwimmer war wie sein Gastgeber), begann mit der Einschätzung militärischer Bestrebungen. Mao fragte: „Unsere Länder bilden fast einen ganzen Kontinent, warum fallen wir nicht in Frankreich, Italien und Westdeutschland gleichzeitig ein?“ Chruschtschow erwiderte: „Es geht um Qualität, nicht um Quantität.“

Obwohl der Sowjetführer ein paar Schläge einstecken musste, gelang es Mao nie, ihn in die Seile zu zwingen. Chruschtschow – genauso imperialistisch wie alle Kreml-Führer – besaß noch immer ausreichend gesunden Menschenverstand, um nicht die Voraussetzungen für einen Atomkrieg zu schaffen. Er kündigte das Atomabkommen mit dem „völlig verrückten“ und mittlerweile wütenden Mao im Jahr 1959 auf. Die Kuba-Krise 1962, als Chruschtschow erneut genug praktische Vernunft walten ließ, um eine verheerende Konfrontation zu vermeiden, erzürnte Mao noch mehr: „Wozu ist man in Besitz von Raketen, wenn man sie nicht einsetzt?“, fragte Mao, woraufhin Chruschtschow ihn mit einem „Paar abgetragener Galoschen“ verglich.

Vereint gegen westliche Welt

Heute sind Russland und China wieder durch eine Art gemeinsamer Ideologie vereint, in deren Mittelpunkt der Widerstand gegen den westlichen Einfluss auf globale Belange steht. Die beiden Länder bauen ihre Beziehungen rasch aus. 2022 erreichte der bilaterale Handel einen Rekordwert von 190 Milliarden Dollar, verglichen mit 147 Milliarden 2021. In den ersten beiden Monaten des Jahres 2023 stiegen die Lieferungen chinesischer Waren nach Russland im Jahresvergleich um fast 25 Prozent. Und China ist mittlerweile der wichtigste Markt für russisches Öl und Gas.

Doch obwohl engere Beziehungen für beide Seiten von Vorteil sein mögen, bestimmt China, wo es langgeht. Auch wenn Xi in der Zeit, bevor Wladimir Putin seinen Angriffskrieg gegen die Ukraine begonnen hat, noch nicht am längeren Hebel gesessen ist, tut er es nach schweren Verlusten auf russischer Seite, weitreichenden Wirtschaftssanktionen und der Anklage gegen Putin wegen Kriegsverbrechen durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) inzwischen sehr wohl. Als Xi im März in Moskau eintraf, überragte er Putin, sowohl im Wortsinn – er ist 12,7 Zentimeter größer als der Russe – als auch im übertragenen Sinn. Mit dem üblichen rätselhaften Lächeln auf den Lippen strahlte er eine gewisse Überlegenheit aus, während Putins Mimik angestrengt wirkte. So bemüht Putin auch versuchen mag, ein Bild der Stärke zu vermitteln, so genau weiß er auch, dass er es sich mit China nicht verscherzen darf, weswegen er Xi so behandelt, wie einst der „große Steuermann“ Mao behandelt werden wollte.

Kein großer Durchbruch

Allerdings brachte der Gipfel keinen großen Durchbruch. Xi legte einen Friedensplan für die Ukraine vor, aber sowohl er als auch Putin räumten ein, dass wohl weder die Ukraine noch ihre westlichen Unterstützer ihn akzeptieren würden. Während Pläne zur weiteren Vertiefung der bilateralen wirtschaftlichen Kooperation geschmiedet wurden und Moskau zusagte, die Erdgaslieferungen an China deutlich zu erhöhen, sah Xi davon ab, Putins größten Wunsch für den Gipfel zu erfüllen: nämlich eine Finanzierungszusage für die Pipeline Power of Siberia 2 abzugeben, über die Erdgas via die Mongolei nach China transportiert werden soll.

Mancherorts ist man der Ansicht, dass Xis Besuch in Moskau dazu gedient hat, Putins Regime nach der Anklage durch den IStGH zu legitimieren. Wahrscheinlicher ist jedoch, dass Xi Moskau besucht hat, um nicht nur Russland, sondern auch den USA zu zeigen, wer das Sagen hat. Indem er Putin einen Rettungsanker zuwarf, stärkte Xi China weiter. Das Land ist nun besser als je zuvor in der Lage, Einfluss auf die Weltordnung zu nehmen. Mao wäre erfreut.

Aus dem Englischen von Helga Klinger-Groier. Copyright: Project Syndicate, 2023.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.04.2023)

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