Tunesien: Die Revolte der jungen Unzufriedenen

Tunesien Revolte jungen Unzufriedenen
Tunesien Revolte jungen Unzufriedenen(c) AP (Christophe Ena)
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Die Jugend in Tunesien hat die Arbeitslosigkeit, Behördenwillkür und Vetternwirtschaft satt. Doch zwischen den gut ausgebildeten Regimegegnern in der Hauptstadt und den revoltierenden Armen in den Dörfern klaffen Welten.

Mohammed Jelassi ist müde und sieht verknittert aus. Bis zum Morgengrauen hat er mit den Bürgermilizen bei den selbst gebauten Barrikaden sein Wohnviertel am Stadtrand von Tunis bewacht. „Bei uns gab keine besonderen Vorkommnisse.“ Aber im Nachbarviertel habe es einen Heckenschützen auf dem Turm der Moschee gegeben. „Ein Soldat erschossen und der Mann verhaftet“, sagt er lapidar, als gehöre das zum Alltag der Revolution, die Diktator Zine el-Abidine Ben Ali zur Flucht ins Ausland zwang. Seine zwei Freunde hat Mohammed nicht mitgebracht. „Nach der Nachtwache sind sie nicht aus dem Bett gekommen“, erzählt der 28-Jährige schmunzelnd.

Die Fahrt geht also ohne sie Richtung Thala, ein Dorf, das vor zwei Wochen während der Proteste gegen das Regime Ben Alis Schlagzeilen gemacht hat. Es liegt 310 Kilometer westlich von Tunis, nahe der Grenze zu Algerien, mitten im Herzland der tunesischen Revolution. Dort, wo alles seinen Anfang genommen hat.

Fahrt nach Südwesten. Tunis ist schnell verlassen, durch die verarmten Vororte und die Industriegebiete am Rand der Hauptstadt. „Hier wurde protestiert, dort Fabriken und Lagerhallen von Ben Alis Leuten abgebrannt“, kommentiert Mohammed die Gebäudesilhouetten, die am Fenster vorbeihuschen. Er war die vergangenen zwei Wochen jeden Tag auf Tunis' Straßen.

Mohammed Jelassi ist ein Beispiel für die aussichtslose Misere der Jugend in Tunesien. Der 28-Jährige hat Chemie in Tunis studiert, dann seinen zweiten Universitätsabschluss in Paris gemacht. Qualifikationen, mit denen er in seinem Heimatland trotzdem keinen Job findet. „Wer der RCD, der Partei Ben Alis, beigetreten ist und bereit war, hohe Schmiergelder zu bezahlen, der bekam relativ schnell einen Job im öffentlichen Sektor.“ Ansonsten sei es fast aussichtslos.

Die tunesische nationale Ölfirma habe letztes Jahr zehn Stellen ausgeschrieben, für die sich mehr als 20.000 junge Ingenieure beworben haben. Vor zwei Monaten wurden 4000 davon zu Bewerbungsgesprächen eingeladen. „Darunter auch ich“, sagt Mohammed. „Das System wollte zeigen, wie fair und offen es ist. Aber nachher mussten wir erfahren, dass alle zehn Stellen bereits vergeben waren. An diejenigen, die am meisten dafür bezahlt hatten.“

Bouzizi, der „Märtyrer“. Die Strecke in das Dorf Thala führt über die Städte Fahs und Silana. In Fahs wurde die Hauptstraße in Avenue Mohammed Bouzizi umbenannt. Ein ebenfalls arbeitsloser Akademiker, der sich aus Verzweiflung am 17. Dezember in Sidi Bouzid selbst angezündet und damit das Fanal für die tunesische Revolte gesetzt hat. Seinen Namen tragen mittlerweile auch viele andere Straßen und Plätze in Tunesien.

„Mit seinem Selbstmord, der im Islam eigentlich verpönt ist, hat er seine Ausweglosigkeit deutlich gemacht und den Zorn der Tunesier auf das Regime verstärkt“, erklärt Mohammed. „Bouzizi ist für uns alle ein Märtyrer.“

Nach Fahs und Silana geht es in höheres Gelände, vorbei an Hügeln mit Getreidefeldern und Olivenbäumen. Im Winter ist die Landschaft saftig grün. Überraschenderweise gibt es nur wenige Militärsperren. Vor zwei Wochen war das ganze Gebiet hermetisch abgeriegelt. Jetzt sind die kontrollierenden Soldaten höflich.

Die letzten Kilometer führen auf einer ramponierten Piste durch offenes Gelände. Vor 14 Tagen lauerten hier in den Hügeln Scharfschützen. Die bewaffneten Anhänger Ben Alis waren mit Geländewagen unterwegs, um die Bevölkerung der Region Kasserine zu terrorisieren. Denn genau hier begann der Widerstand gegen den repressiven Staatsapparat. Zuerst im 80 Kilometer entfernten Sidi Bouzid, schwappte er danach auf die umliegenden Dörfer und Städte über. Gegen die marodierenden Milizen von Ben Ali errichteten die Einwohner Straßensperren.

Schwieriger Überlebenskampf. Thala ist wie ein Dorf am Ende der Welt. Die meisten Häuser unverputzt, zum Teil nicht fertiggestellt, einige Straßen sind ungeteert. Die Menschen hier haben nichts mit den intellektuellen, gut gekleideten Demonstranten in Tunis gemein, von denen viele aus der Mittelschicht kommen. Hier in Thala sind die Menschen verarmt, ohne Hoffnung.

Ohne Geld und Arbeit ist ihr Leben ein ständiger Überlebenskampf. Manche sind Bauern, andere wenige finden schlecht bezahlte, aber harte Arbeit in den Marmorsteinbrüchen, für die die Gegend bekannt ist. Die Gesichter der Menschen sind braun gebrannt, von Sonne und Luft gegerbt. Vielen fehlen mehrere Zähne, denn medizinische Versorgung können sich hier nur die wenigsten leisten.

Das ganze Dorf steht unter Schock. Sechs lange Tage waren die Bewohner von einer 1500 starken Spezialtruppe terrorisiert worden. Angefangen hatte das Horrorszenario am 3. Januar mit einer friedlichen Demonstration von 250 Schülern und Studenten, die bessere Ausbildung und Arbeit forderten.

Die Polizei antwortete mit Prügeln und Tränengas. Mit dem brutalen Vorgehen gegen die Kinder und Jugendlichen lösten die Sicherheitskräfte in diesem überschaubaren Ort, in dem jeder jeden kennt, eine Lawine aus.

„Ich war nicht bei den Protesten“, sagte ein 60-jähriger Mann im Büro einer Gewerkschaft. „Das war ganz allein die Jugend, die hier revoltierte.“ Er packt einen Jungen am Arm, der gerade mal 15 Jahre alt ist. „Hier, das sind die Typen, die uns von Ben Ali befreiten.“ Der Hals des Jungen ist unter dem Ohr immer noch dick geschwollen. Man sieht deutlich die runde, blutverkrustete Wunde von einem Gummigeschoss. „Wir wollen Freiheit, Brot und Arbeit“, sagt der 15-Jährige. Die anderen Jugendlichen, die mit ihm ins Büro kommen, alle humpelnd, verletzt, nicken stumm. Mit einem Blick, als würden sie sofort alles noch einmal genauso machen.

Die Auseinandersetzungen mit den Spezialeinsatztruppen dauerten in Thala bis zum 9. Januar. Es gab sechs Tote und unzählige Verletzte. Ob Jung oder Alt, die Bewohner des Dorfes sind nach wie vor aufgebracht und beschimpfen die neue Regierung, in der noch immer Mitglieder der Regimepartei von Ben Ali vertreten sind.

Auf der Fahrt zurück schweigt Mohammed, der junge Regimegegner aus Tunis. Dies war sein erstes Mal in Thala. Die Ereignisse, die in der Region passiert sind, kennt er nur aus dem Internet. „Auf Facebook habe ich das alles mitverfolgt, wie so viele andere auch.“ Es aber mit eigenen Augen zu sehen, sei etwas vollkommen anderes, gibt er zu. „Es ist wunderbar, welche Kraft diese Menschen haben. Andererseits machen mich all das Elend und das Leid traurig.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.01.2011)

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