Interview

John Irving: „Ich verbünde mich mit Außenseitern“

Der Schriftsteller John Irving war nie religiös. Am ehesten glaubt er an Geister.
Der Schriftsteller John Irving war nie religiös. Am ehesten glaubt er an Geister. Aaron Vincent Elkaim/picturedesk.com
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Der neuste Roman von John Irving ist eine Ehrerbietung an seine Tochter Eva. Sie outete sich 2016 als Transfrau. Früh hat der Schriftsteller aus New Hampshire erfahren, wie die Gesellschaft mit sexuellen Minderheiten umgeht. Der 81-Jährige spricht gut Deutsch. Seine Bücher schreibt er mit der Hand: „Das erspart mir Zeit“, sagt er.

In Lech und St. Anton am Arlberg haben Sie eine der wichtigsten Figuren Ihres neuen Romans „Der letzte Sessellift“ aufwachsen lassen. Waren Sie selbst schon einmal in Vorarlberg?

John Irving: Natürlich, ich war mit meinen Kindern viele Male dort. Ich habe auch einen ganzen Winter lang in Kaprun verbracht. Aber wenn wir im Frühling Ski fahren wollten, waren mir St. Anton und Lech immer am liebsten.

Ski fahren lässt es sich dort sehr gut.

Das finde ich auch. Es ist großartig. Allerdings gibt es Skiorte, die interessanter sind, wo man mehr unternehmen kann, als nur Ski zu fahren. Nach Zermatt, St. Christoph, Davos oder Innsbruck bin ich später lieber gefahren, weil sich meine Frau für diesen Wintersport nicht interessiert. Aber ich habe immer versucht, deutschsprachige Skigebiete zu besuchen, damit ich wenigstens ein bisschen Deutsch sprechen kann. Es ist die einzige Fremdsprache, die ich halbwegs beherrsche.


Sie haben in den 1960ern einige Zeit in Wien verbracht. Da haben Sie Deutsch gelernt?

Ja, insgesamt habe ich vier Jahre mit meiner Familie in Wien gelebt. Mein zweiter Sohn ist in Wien geboren, mein ältester Sohn ging in Österreich in den Kindergarten. Normalerweise wäre ich jetzt gerade in Österreich, Deutschland oder der Schweiz, um mein neues Buch vorzustellen. Aber dieses Mal mache ich keine Lesereise. Einerseits finde ich das sehr schade, andererseits hat es den Vorteil, dass ich mich schon meinem nächsten Roman widmen kann. Ich habe bereits acht Kapitel geschrieben.


Bleiben wir bei Ihrem aktuellen Buch. Der Held ist der Schneeschuhläufer Eliot, der irgendwann beginnt, Frauenkleider zu tragen. Schon 1978 in „Garp und wie er die Welt sah“ haben Sie eine Transgender-Figur geschaffen. Damals hat sich kaum jemand mit sexuellen Minderheiten befasst. Woher kommt Ihre Sensibilität für Menschen, die am Rand stehen?

Sie hat viele Quellen. Meine Mutter arbeitete als Krankenschwester und Sozialarbeiterin in einer Familienberatungsstelle. Oft hatte sie mit minderjährigen Mädchen zu tun, die ungewollt schwanger geworden waren, und zwar in einer Zeit, in der Abtreibung verboten war. Wenn sie nach Hause kam, erzählte sie uns von diesen jungen, verzweifelten Frauen. Sie sprach darüber, dass Frauen ein Recht auf Abtreibung haben sollten, lang bevor es dieses gab. Dazu kommt, dass meine jüngere Schwester lesbisch und mein jüngerer Bruder schwul waren. Ich wuchs also mit Geschwistern auf, die Teil der LGBTQ-Community waren. Ich habe mitbekommen, wie sehr meine Mutter und mein Stiefvater fürchteten, dass die beiden schlecht behandelt würden. Und ich sah, wie sie die Menschen in der kleinen Stadt, in der wir aufwuchsen, behandelten. Bereits mit 14 Jahren war mir bewusst, dass Frauen diskriminiert und ihnen ihre Rechte versagt werden. Ebenso, dass sexuelle Minoritäten geringschätzig behandelt und missbraucht werden. Weniger, aber dennoch wichtig war auch, dass ich eine Bubenschule besuchte. Das war damals ganz normal. Ich gehörte dort dem Ringerteam an, die meisten meiner Kollegen waren homophob. Burschen, die nicht athletisch und männlich aussahen, wurden als schwul verspottet. Ich war immer derjenige, der sagte: „In meiner Gegenwart könnt ihr solche Gespräche nicht führen. Meine Schwester ist lesbisch. Mein Bruder ist schwul.“ Sie sehen: schon lang, bevor ich über sie zu schreiben begann, war ich ein Verbündeter von Außenseitern und Menschen, denen mit Intoleranz begegnet wird.


Ihre Tochter Eva outete sich 2015 als Transfrau. Mit Eliot haben Sie den liebenswertesten transsexuellen Helden geschaffen, den man sich nur vorstellen kann. Für Ihre Tochter nehme ich an? Sie ist für Sie eine Heldin.

Damit haben Sie sehr recht. Genau so ist es.


Ihre Tochter sagte, nie habe sie sich Sorgen machen müssen, dass Sie, Ihr Vater, sie nicht akzeptieren und lieben würden, wie sie ist. Da ist Ihnen etwas gelungen.

Für die Kinder ist es trotzdem immer schwierig, selbst wenn ihre Eltern sie unterstützen und ihnen nicht ihre Liebe entziehen. Aber es ist unvergleichlich härter für jene Kinder, die erkennen, dass mit ihnen etwas anders ist, und sich nicht trauen, darüber mit ihren Eltern zu sprechen, weil sie genau wissen, dass Vater und Mutter homophob sind.


In Texas hat der republikanische Senator Greg Abbott Bücher, die Themen wie Rassismus, Sex und Gender-Identität behandeln, aus dem Unterricht und den Schulbibliotheken verbannt. Was genau will ein Politiker mit so einem Verbot erreichen?

Die Zielgruppe solcher Politiker sind Eltern mit rechten Ideologien, die sexuelle Minderheiten ablehnen. Sie lassen die Eltern darüber richten, was ihre Kinder in Schulen lesen sollen, und zwar unter dem Vorwand, sie müssten ihre Kinder vor Informationen über Schwule, Lesben oder transsexuelle Menschen beschützen. Solche Inhalte würden ihre Kinder verstören. Aber tatsächlich verstören sie nicht die Jugendlichen, sondern ihre konservativen Eltern. Das ist der Punkt. Die Folgen, die all diese Maßnahmen haben, sind, dass sich jene Kinder, die mit sich kämpfen und sich eigentlich outen wollen, noch einsamer und isolierter fühlen. Denn all diese Bücher, die ihnen ermöglichen würden zu erfahren, dass auch andere Menschen dasselbe erlebt und durchgemacht haben wie sie, dürfen sie nicht lesen. Nur: Zur Meinungsfreiheit, die sich die Vereinigten Staaten so groß auf die Fahnen heften, gehört auch Informationsfreiheit. Wie kann es Meinungsfreiheit geben, wenn die Türen zu bestimmten Informationen verschlossen werden? Aber genau das passiert gerade – im Übrigen nicht nur in Texas, sondern auch in Florida und allen anderen Bundesstaaten, in denen Republikaner das Sagen haben. Es zeigt, wie tief die USA gespalten sind, was für ein Rückschritt in vielen Bereichen stattfindet. Aber lassen Sie uns von etwas anderem reden.


Okay. Sie beginnen beim Schreiben eines neuen Romans immer mit den letzten Seiten, Sie haben die Handlung schon genau im Kopf. Fällt es Ihnen dann leichter, sich ganz auf die Sprache und den Sound zu konzentrieren?

Ich bin sehr altmodisch. Ich muss den Plot und den Handlungsstrang genau kennen, um beginnen zu können. Viele große Schriftsteller brauchen das nicht, ich schon. Ich mache mir laufend Notizen zu Handlung, Struktur, den Charakteren und vielem mehr, und zwar zu mehreren Romanen, die in meinem Kopf gleichzeitig entstehen. Es kann sechs, sieben, manchmal auch mehr Jahre dauern, bevor ich so weit bin, mit dem Schreiben zu beginnen. Mir ist die Architektur auch sehr wichtig, alle Kapitel haben einen Titel, bevor ich anfange. Ich mag diesen Prozess, für mich funktioniert er so am besten, darum halte ich daran fest.

Sie schreiben alles mit der Hand. Wollen Sie von Ihrer Assistentin, die Ihr Manuskript abtippt, gleich hören, was sie davon hält?

Ja, dazu ermuntere ich meine Assistentin Khalida sogar. Ich will, dass sie mir sagt, wenn sie etwas stört, etwas verwirrt oder sie etwas zweimal lesen muss. Ich erwarte Feedback. Alles geht langsam voran. Genau so will ich es. Das ist der Grund, weshalb ich mich dafür entschieden habe, mit der Hand zu schreiben. Wenn ich auf der Tastatur tippe, mach ich zu viele Fehler. Das Ergebnis ist eine erste Fassung, die noch stark überarbeitet werden muss. Fakt ist: Alles, was mich langsamer macht, erspart mir Zeit, denn meine ersten Fassungen sind ziemlich gut.


Ihre Romane gehen nie gut aus. Mögen Sie keine Happy Ends?

Beim Leser bleibt nur dann etwas hängen, wenn ihn ein Text emotional bewegt. Ich lese keinen Roman, um intellektuell überzeugt zu werden. Und die Angst, einen geliebten Menschen zu verlieren, kennt fast jeder. Darum ist es mein Job als Schriftsteller, Figuren zu schaffen, die der Leser liebt oder zumindest mag.


Und denen dann etwas Schreckliches widerfährt. Das Schlimmste ist wohl, ein Kind zu verlieren. Hätten Sie keine Kinder, ich denke, Ihr Werk wäre ein ganz anderes.

Herr Irving, darf man Sie auch fragen . . .

Davon bin ich überzeugt. Ich bin schon sehr früh – mit 23 Jahren – das erste Mal Vater geworden. Ich habe damals noch studiert. Von dem Tag der Geburt meines ersten Sohnes an habe ich gespürt, dass ich noch nie zuvor jemanden so geliebt habe und noch nie zuvor um jemanden so Angst gehabt habe wie um ihn. Diese Angst um Menschen, die man liebt, ist mein Thema als Schriftsteller. Schwierig zu sagen, worüber ich geschrieben hätte, wäre ich nie Vater geworden.1 . . . ob Sie an Geister glauben? In Ihrem jüngsten Roman wimmelt es nur so davon.

Für mich als nicht religiösen Menschen sind Geister das, was ich mir unter einer spirituellen Welt am ehesten vorstellen kann. Ich war nie religiös, ich habe nie geglaubt, weder als Kind noch als Erwachsener. Aber es gibt viele vernünftige, sehr gesunde Menschen, die mit Geistern Erfahrungen gemacht haben. Sie haben die Anwesenheit von Verstorbenen gespürt. Und je älter man wird, desto leichter ist es, an Geister zu glauben. Denn ab einem bestimmten Alter sind mehr Jugendfreunde und Angehörige verstorben als am Leben.

2 . . . ob Sie jemals die Anwesenheit von Verstorbenen gespürt haben?

Nein, aber gelegentlich ertappe ich mich dabei, wie ich ansetze, meiner Mutter etwas zu sagen. Aber dann wird mir bewusst: „Das geht ja nicht, sie ist nicht mehr da.“

Steckbrief

John Irving wurde 1942 in Exeter, US-Bundesstaat New Hampshire, geboren. Er lebt seit Jahren in Toronto und ist einer der bekanntesten und erfolgreichsten Autoren Nordamerikas. 2019 nahm er die kanadische Staatsbürgerschaft an.

Seine bisher 14 Romane, darunter „Garp und wie er die Welt sah“ (1978) , „Das Hotel New Hampshire“ ( 1981), „Owen Meany“ (1989), „Witwe für ein Jahr“ (1998) oder „Letzte Nacht in Twisted River“ (2009) wurden alle Weltbestseller.

2000 erhielt er einen Oscar für die beste Drehbuchadaption für die Verfilmung seines Romans „Gottes Werk und Teufels Beitrag“.
Am 26. April 2023 erscheint sein neuestes Buch „Der letzte Sessellift“.

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