Unterwegs

Über ein Handygespräch in einem Moskauer Bus

Lieber in den Knast als an die Front: Von einem Handygespräch in einem Moskauer Bus.

Ich fahre mit dem Bus zum Arzt. Die Ohren sind seit Tagen zu, ich bewege mich schwerhörig durch den Moloch Moskau, was nicht immer schlecht ist. Es wird so viel gerechtfertigt im brutalen Krieg in der Ukraine, so viel von „Vaterlandspflicht“ gesprochen, so wenig Empathie gezeigt. Das nicht hören zu müssen, ist fast eine Wohltat für den ganzen Organismus.

Das Telefonat der Frau neben mir im Bus hören meine Ohren dann doch. Sie erzählt von Dima, es muss ein Verwandter sein. Dima also muss in die Strafkolonie. Offenbar wurde er beim Klauen erwischt, und nicht zum ersten Mal. Die Frau spricht darüber, als würde sie über die Einkäufe fürs Wochenende erzählen. Fast jede Familie in Russland hatte schon mit dem Gefängniswesen zu tun. Nahezu jeder hat Freunde, Bekannte, Verwandte hinter Gittern. Manche wegen kleiner Vergehen, manche wegen Kapitalverbrechen. Durch repressive Gesetze kommen nun auch immer mehr politische Urteile hinzu. Unterhaltungen über Haftstrafen wirken fast schon alltäglich, aber nicht weniger tragisch.

Die Menschen im Bus sind in ihre Sachen vertieft, die Frau fällt mit ihrem Gespräch nicht sonderlich auf. Nach etwa 20 Minuten sagt sie: „Dima ist ein Schlitzohr, er droht immer weiter in eine Welt abzutauchen, aus der er nicht mehr herausfindet. Einmal Knast, immer Knast. Aber weißt du, etwas Gutes hat's doch: Wenn er hinter Gittern ist, wird er wenigstens leben und muss nicht dorthin, wo er sein Leben lässt.“

Sie spricht nicht vom Krieg, nicht von der Front. Das macht kaum einer öffentlich. Doch nun schauen einige zu ihr her. Jeder versteht, was sie meint.

aussenpolitik@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 23.04.2023)

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