Reportage

Vertriebene in der Ukraine: »Wir müssen im Hier und Jetzt leben«

Wegen der russischen Invasion musste Tetjana Perewersewa ihr Haus in Awdijiwka verlassen. Nun lebt sie in einer Neubausiedlung westlich von Kiew.
Wegen der russischen Invasion musste Tetjana Perewersewa ihr Haus in Awdijiwka verlassen. Nun lebt sie in einer Neubausiedlung westlich von Kiew. Jutta Sommerbauer
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Russlands Angriffskrieg hat die Bewohner des ostukrainischen Städtchens Awdijiwka in alle Himmelsrichtungen vertrieben. Eine Reportage über Heimatverlust, die Mühen des Neubeginns und Dinge, auf die man (nicht) verzichten kann.

Und Olja?“ fragt Tetjana.

„Die ist in der Nähe von Dnipro“, sagt Natascha. Sie kaut an ihrem Brathuhn. „Was ist mit Marina?“

„Die arbeitet in Kiew“, sagt Tetjana. „Schenja ist auch in Kiew“, fügt sie hinzu. „Hat gute Arbeit gefunden. Lebt allein.“ Sie spießt eine Bratkartoffel auf. „Und deine Mutter?“

„Nach wie vor in Tscherkassy“, sagt Natascha. „Stell dir vor, mein Vater ist immer noch im Osten. Wenn ich mit ihm telefoniere, sagt er nur auf Ukrainisch: Vse bude dobre. Alles wird gut.“

In der zehnten Etage eines Kiewer Plattenbaus sitzen zwei Frauen und führen Gespräche, wie man sie führt, wenn man sich sehr lang nicht gesehen hat und in der Zwischenzeit viel passiert ist. Auf dem Tisch stehen Teller mit kreisrund aufgelegten Wurstscheiben, Matjesstücken, fein geschnittenen Gurken. Natascha hat Hühnerkeulen und Kartoffeln im Rohr gebraten. Sie nippt an einem Rotweinglas. Es ist ein besonderer Tag, auch wenn an diesem wolkenverhangenen Apriltag kein Sonnenstrahl den Kiewer Himmel erhellt. Die beiden Frauen feiern ihr Wiedersehen.

Das letzte Mal, dass Tetjana Perewersewa und Natascha Maximenko einander getroffen haben, war noch vor dem 24. Februar 2022. Vor dem russischen Angriff also. Anders gesagt: In ihrem alten Leben. In diesem alten Leben waren die beiden Arbeitskolleginnen in der ostukrainischen Stadt Awdijiwka. Sie sahen einander jeden Tag in der städtischen Kulturabteilung. Tetjana, mit 60 Jahren fast doppelt so alt wie ihre Kollegin, managte dort unzählige Projekte. Sie lud Künstler und Schriftsteller in das nördlich von Donezk gelegene Städtchen. Schon seit 2014 tobte hier der Krieg am Ortsrand. Immer wieder gingen Geschosse in Awdijiwka nieder.

Tetjana, rot gefärbtes Kurzhaar, war patriotische Aktivistin, Pfadfinderleiterin, Museumsgründerin und vieles mehr. Natascha, blonder Pferdeschwanz, grüne Augen, Mutter von drei kleinen Kindern, war ihre Buchhalterin. Außerdem waren die beiden Frauen Beinahe-Nachbarinnen in einem Stadtteil von Awdijiwka, der von den Einwohnern „Altes Awdijiwka“ genannt wird. Alt, weil dort einzelne Häuser mit geziegelten Wänden standen, die die Eltern oder Großeltern der Besitzer eigenhändig errichtet hatten. Die Häuser waren von Obstbäumen und Gemüsegärten umgeben, in denen kein Quadratzentimeter Erde verschwendet wurde. Hundegebell und Katzengeschrei waren zu hören. Eine fast dörfliche Atmosphäre, so ganz anders als im neuen Teil des Städtchens mit seinen Wohnblöcken, die man hochzog, als in den 1960er-Jahren eine riesige Kokerei errichtet wurde und die zugezogenen Arbeiter, viele davon aus Russland, eine Bleibe benötigten.

Zwei von fünf Millionen

Der russische Angriffskrieg hat das bisherige Leben der beiden Frauen abrupt beendet. Er hat sie aus ihrer Heimat vertrieben und zu Binnenflüchtlingen gemacht – so wie gegenwärtig mehr als fünf Millionen andere Ukrainer. Die Einwohner Awdijiwkas sind heute über das ganze Land verstreut, sie leben in Kiew, Dnipro, Tscherkassy, Truskawez, Pawlo-hrad, Uman und vielen anderen Orten. Manche hat es bis Westeuropa verschlagen. Awdijiwka ist jetzt eine Geisterstadt. Von einst 32.000 Einwohnern sind geschätzt weniger als 2000 übrig. Sie hausen in Kellern und Schutzbunkern, sind von der Hilfe Freiwilliger abhängig, die sie mit Lebensmitteln und Medikamenten versorgen. Kaum ein Haus ist nicht von Raketen oder Artilleriegranaten beschädigt. Von manchen Wohnblöcken sind nur Ruinen übrig. In den bunten Wandbildern mit ihren ukrainischen Motiven, Symbole für den Neubeginn nach dem kurzen Separatisten-Spuk von 2014, klaffen Löcher. Die Straßen sind von Schlamm und Schutt bedeckt. Die russischen Truppen drängen von Donezk her Richtung Nordwesten, mit viel stärkerer Feuerkraft als früher. Solang die Front hier verläuft, wird die Stadt allmählich dem Boden gleichgemacht. So wie Sewerodonezk, Bachmut oder Wuhledar.

Natascha hat die Teller abgeräumt. Tee gefällig? Tetjana lehnt ab. Sie interessiert das Schicksal einer anderen Arbeitskollegin. Jana, Mitte 40, ist mit ihrer betagten Mutter in Awdijiwka geblieben. „Sie sagt, alles sei gut“, berichtet Natascha. „Sie haben eine Solarbatterie gekauft, mit der sie das Handy aufladen. Bei irgendwelchen Nachbarn gibt es eine Starlink-Internetverbindung. Jana und ihre Mutter leben noch immer im Haus.“

„Gehen sie aus Prinzip nicht in den Keller hinunter?“, fragt Tetjana.

„Ich weiß nicht“, sagt Natascha, „ich habe nicht weiter nachgefragt.“

Dabei habe das Haus der Frauen ganz gewiss einen Keller, sagt Tetjana.

Verwilderter Blumengarten

Natascha hat Awdijiwka gemeinsam mit ihrer Familie Anfang März 2022 verlassen. „Wir haben nur unsere Kleidung und Serhijs Werkzeug mitgenommen“, sagt sie. Nach einer Zwischenstation im Gebiet Dnipro fand ihr Mann Serhij Arbeit in Kiew. Er baut Möbel zusammen. „Wir hatten Glück“, sagt Natascha. „Durch Kontakte haben wir eine halbwegs leistbare Wohnung gefunden.“

Die Wohnung der fünfköpfigen Familie liegt in Troeschyna, einem prestigelosen Plattenbaubezirk am linken Dnipro-Ufer. Aus dem Fenster im zehnten Stock fällt der Blick auf andere verwaschene Plattenbauten. Nataschas achtjährige Tochter Veronika besucht die Schule um die Ecke, der zweijährige Sohn Roma die Kinderkrippe. Natascha ist froh, dass sie die Plätze bekommen hat. Wegen der vielen Binnenvertriebenen ist das keine Selbstverständlichkeit. Ihre jüngste Tochter Sofia ist erst vier Monate alt. Sie sitzt in einer Automatik-Wippe, die wie fast alle Möbel hier Nataschas Vermieterin gehört, und gluckst.Wenn Natascha an ihr früheres Heim denkt, kommen ihr die Tränen. Vor ein paar Tagen hat ein freiwilliger Helfer ihr ein Video von dem Haus geschickt. „Ich kann es mir kaum ansehen“, sagt sie. Der Helfer war dort, um ein paar Dinge für sie zu holen: Mikrowellenherd, Staubsauger, Fleischwolf. „Keine Ahnung, ob ich die Sachen überhaupt brauchen werde.“ Natascha zeigt den Clip auf ihrem Handy. Die Fensterscheiben des grauen Hauses sind durch Druckwellen zerborsten, das Dach ist von Granatsplittern getroffen. Es regnet hinein. Über die Möbel hat sich eine dicke Staubschicht gelegt. Der Blumengarten ist verwildert. „Natürlich gibt es Häuser in viel schlimmerem Zustand. Aber ich begreife allmählich, dass wir wohl kaum zurückkehren werden.“ Tetjana sagt, sie wolle zurückkehren. Aber sie sagt auch: „Wir müssen im Hier und Jetzt leben.“

Jutta Sommerbauer

Während Nataschas Familie im Osten Kiews gelandet ist, hat es Tetjana ganz in den Westen der Hauptstadt verschlagen: in die Neubausiedlung Wyschnewe. Dort reihen sich hohe, bunt bemalte Wohnblöcke, Pizzaläden, Gartencenter und Tankstellen aneinander. Der Durchzugsverkehr dröhnt. Tetjana und ihr Mann sind vorübergehend bei der Familie ihres Sohnes untergekommen. „Meine Kinder und Enkelkinder retten mich“, sagt sie. „Ich bin jemand, der sich an Menschen bindet, nicht an Orte.“ Doch viele lieb gewonnene Verbindungen ihres alten Lebens sind ihr abhandengekommen. Awdijiwka war für sie ein großes Projekt: eine Stadt, die komfortabler, freundlicher, ukrainischer werden sollte. „Wir haben gerade erst begonnen, die Früchte unserer Arbeit einzuholen.“ Und auch liebe Gewohnheiten, die zum Alltag gehören, hat sie verloren. Ihre Manikürmeisterin und ihre Friseurin, zum Beispiel. „Wenn ich hier zum Friseur gehe, versteht man mich nicht“, sagt Tetjana. Die Nägel lackiert sie sich inzwischen selbst.

Kommt ein Wiederaufbau?

Am Ende ihres Treffens stellen sich die beiden vor, wie es wäre, wenn Awdijiwka nach einem Sieg Kiews wiederaufgebaut werden würde. Natascha lacht: „Mein Mann sagt, dann wird er viel Arbeit haben.“

„Jedenfalls müssen die Russen bis an die Grenze vertrieben werden“, sagt Tetjana. Natascha pflichtet ihr bei: „Was passiert, wenn sie bleiben, haben wir schon erlebt. Nein danke.“

Unlängst sei ein Magnat in Awdijiwka gewesen, erzählt Tetjana. „Der kommt doch nicht einfach nur so.“

„Ach wirklich?“, fragt Natascha.

„Man könnte die Stadt neu planen“, sagt Tetjana. Da nicht alle zurückkommen würden, wären wohl nicht alle Häuser notwendig.

Zum Abschied schwören sie einander, sich in Zukunft öfter zu treffen.

Fakten

Awdijiwka ist ein Städtchen im ostukrainischen Donbass. Es wurde als Kosakensiedlung gegründet. Mit dem späteren Bau der Eisenbahn und der Errichtung einer Kokerei in den 1960er-Jahren wuchs die Bevölkerungszahl sprunghaft an (1989: knapp 40.000).

Seit 2014 war Awdijiwka vom Krieg im Donbass gezeichnet. Tausende Bewohner verließen die Stadt. In den letzten Jahren gab es Zeichen einer Normalisierung des Alltags: Parks und Spielplätze wurden restauriert, das Kulturleben erholte sich. Russlands Invasion 2022 hat die Stadt fast komplett zerstört.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.05.2023)

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