Wiener Festwochen

In der russischenTaiga zerschellt eine Utopie

Eine dunkle, intensive, großartige Parabel: „Kingdom“ bei den Festwochen.
Eine dunkle, intensive, großartige Parabel: „Kingdom“ bei den Festwochen.Christophe Engels
  • Drucken

„Kingdom“ bei den Festwochen: Ein Aussteigerleben in der Wildnis mutiert zum Albtraum. Fabelhaft.

Was für eine Wohltat in Zeiten, wo eine Handvoll Menschen auf einer leeren Bühne der Normalfall eines Theatererlebnisses geworden ist: Natur auf der Bühne! Bäume, ein Bach mit echtem Wasser, ein Holzhaus, besser gesagt, eine Holzhütte, andauernd in so zauberhaftes wie unheimliches Dunkel getaucht. Ja, sogar drei Hunde streunen oft durch das Stück, nehmen Teil am Leben der kinderreichen Familie, die in einer sibirischen Einöde für ihr Überleben rackert. Freiwillig, wobei: wie freiwillig?

Freiwillig ist es auf jeden Fall für den Patriarchen, den Vater und Großvater mit dem weißen Bart. Wegen ihm heißt dieses frei dem Film „Braguino“ folgende Stück auch „Kingdom“. Das alles war Großvaters Projekt. Hier ist das Reich, das er sich erträumt hat, als er einst beschloss, mit seiner jungen Familie Europa den Rücken zu kehren: einer in seinen Augen von Seelenlosigkeit und kapitalistischer Gier zerfressenen modernen Welt. Zurückgezogen in der sibirischen Taiga wollte er mit seiner Familie ein besseres, friedliches Leben führen.

Sich selbst entkommen sie nicht

Was daraus geworden ist, erlebt das Publikum dank der Wiener Festwochen im Jugendstiltheater am Steinhof: Die durch filmische Nahaufnahmen unterstützte Inszenierung der Belgierin Anne-Cécile Vandalem und das Spiel ihrer Theatergruppe „Das Fräulein (Kompanie)“ entwickeln einen magischen Sog. „Kingdom“ erzählt davon, wie eine Familie, die im Sinn von Rousseaus „Zurück zur Natur“ aus der Gesellschaft ausgestiegen ist, um im Abseits eine reinere, bessere Gegenwelt zu verwirklichen, von all den menschlichen Konflikten wieder eingeholt wird, vor denen sie geflohen ist.

Passiert das nur wegen der „bösen“ Nachbarn jenseits des Zauns? Diese lassen in ihrer Gier die Wilderer, die reichen Jagdgesellschaften aus Moskau in die Wälder, erzählen die Älteren den Kindern – und erzählen das auch den Journalisten aus der Stadt, die offenbar gekommen sind, um sie für eine Doku filmen. Als die Hündin stirbt: Haben die Nachbarn sie vergiftet, um sich zu rächen? Kommt alles Böse in dieser Welt einzig und allein von außen, von den gierigen, missgünstigen Menschen jenseits des Zauns? Beim Zusehen kommen allmählich Zweifel auf – spätestens, als man erfährt, dass die Nachbarn Verwandte sind, die ursprünglich hier mit ihnen gelebt haben . . .

Besessen von der Geschichte

Angst und Gewalt greifen um sich. Doch da streikt die junge Generation, sie will die ererbten Konflikte, die alten Rechnungen nicht mehr weitertragen. „So besessen warst du von deiner Geschichte, dass sie dir entglitten ist“, sagt eine Enkelin dem Großvater. Seine Utopie hat Leben gekostet (auch das seiner Frau, die die Härte dieses Lebens nicht aushielt), neue Gewalt und Misstrauen gebracht. Von utopischen Gegengesellschaften bis zum Ukraine-Krieg: Man kann an vieles denken bei dieser dunklen, intensiven, großartigen Parabel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.05.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.