Wort der Woche

Nahrungsmittelkrisen

Der Krieg in der Ukraine sorgt nicht nur regional für immenses Leid, sondern auch global: Immer mehr Menschen sind von Nahrungsmittelkrisen betroffen.

Eigentlich produzieren wir mehr als genug Nahrung für die gesamte Menschheit. Daher waren die Hoffnungen groß, als sich die Staatengemeinschaft im Jahr 2015 auf die Nachhaltigen Entwicklungsziele (SDGs) verständigte, darunter das Ziel, den Hunger auf der Welt bis 2030 auszurotten. Die Realität ist leider eine andere: Weltweit sind immer mehr Menschen – aktuell rund 830 Mio. – unterernährt.

Besonders schlimm trifft es 258 Mio. Menschen in 58 Staaten, die von akuten Nahrungsmittelkrisen betroffen sind. Dies geht aus dem in der Vorwoche veröffentlichten „Global Report on Food Crises 2023“ hervor, der von 16 internationalen Organisationen (u. a. FAO, Unicef, Usaid und EU) alljährlich erarbeitet wird. Die Zahl jener, die bittersten Hunger erdulden müssen, ist demnach das vierte Jahr in Folge gestiegen; 2017 waren es 112,7 Millionen in 53 Staaten.

Der Hauptgrund für den rasanten Zuwachs ist, dass zu den bisherigen Haupttreibern von Nahrungsmittelkrisen – auf der einen Seite bewaffnete Konflikte mit großen Flüchtlingsströmen, auf der anderen Seite Naturkatastrophen wie etwa Dürren, Überschwemmungen, Erdbeben oder Hurrikanes – nun ein dritter hinzukam: die weltwirtschaftlichen Verwerfungen im Gefolge des Kriegs in der Ukraine. 2022 wurden dadurch rund 84 Mio. Menschen in 27 Ländern in eine Ernährungskrise gestürzt.

Die schlimmsten Befürchtungen hinsichtlich der Kriegsfolgen für die Nahrungsmittelversorgung der ärmsten Menschen haben sich also bewahrheitet. Und obwohl man sich dieser Gefahr bewusst war, konnte man dies nicht verhindern. Zu vielschichtig sind die ökonomischen Zusammenhänge. Einige Stichworte: Exportsperren, Preissteigerungen (Getreide, Dünger, Energie) auf dem Weltmarkt, erhöhte Transportkosten, Verteuerungen von Importwaren infolge der Abwertung des US-Dollars, galoppierende Inflation, steigende Zinsen – und Misswirtschaft. Viele ärmere Länder, die von der Covid-19-Krise ohnehin schon geschwächt waren, hatten diesem zusätzlichen ökonomischen Schock nichts mehr entgegenzusetzen und konnten den Bedürftigen im Land nicht mehr wirksam helfen.

Wie groß das menschliche Leid hinter diesen trockenen Fakten ist, kann man an einer Zahl in dem Bericht erahnen: Eine Verteuerung von Lebensmitteln um (real) fünf Prozent bedeutet eine neunprozentige Steigerung des Risikos, dass Kinder einen hungerbedingten Muskelschwund erleiden.

Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/wortderwoche

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.05.2023)

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