Der soziale Niedergang und eine anhaltende Protestwelle bringen die Regierung und den Fahrplan für den Beitritt zur Europäischen Union ins Wanken. In Umfragen sind bereits mehr Kroaten gegen als für die Union.
Zagreb. Ausgerechnet auf der Zielgeraden des Beitritts-Marathons gerät EU-Anwärter Kroatien ins Straucheln. Eine Welle von Protesten bringt nicht nur die Regierung ins Wanken, sondern auch den Fahrplan für die Beitrittsverhandlungen. Zwar eint die Demonstranten nur der Unmut über das Establishment. Doch die EU-Skepsis nimmt zu, das Vertrauen in den Staat schwindet.
Erneut zogen am Donnerstagabend Tausende von Demonstranten vor Bankfilialen, Politikerwohnungen, Partei- und Gewerkschaftszentralen der kroatischen Hauptstadt auf. Die Verwünschungen gegen Regierungs- und Oppositionsparteien gingen mit skandierten Forderungen nach sofortigen Neuwahlen einher. Selbst Kroatiens katholische Kirche blieb dieses Mal vom Unmut über das als korrupt geschmähte Establishment nicht verschont. „Priester sind Diebe!“, rief die aufgebrachte Menge vor der Kathedrale: „Nieder mit den Kinderschändern!“
Homogen sind die über Facebook mobilisierten, aber ohne klare Führung demonstrierenden Spontanrebellen keineswegs. Es finden sich darunter nationalistische Fußball-Hooligans und Kriegsveteranen genauso wie unzufriedene Bauern und anarchistische EU-Gegner.
Ärger über korrupte HDZ
Sie alle machen ihrem Unmut über den korrupten Parteiklüngel und den sozialen Niedergang beim kriselnden EU-Anwärter landesweit und fast täglich auf der Straße Luft. Es eint sie nur der Wunsch nach Neuwahlen – und der Ärger über die in unzählige Korruptionsskandale verstrickte, konservative Regierungspartei HDZ.
Manche Demonstranten tragen Masken mit dem Bildnis des in österreichischer Auslieferungshaft einsitzenden Ex-Premiers Ivo Sanader: Der langjährige HDZ-Chef, der mit seinen Parteigetreuen staatliche Institutionen und Firmen systematisch geplündert haben soll, ist für viele Kroaten zum Sinnbild eines korrupten und völlig verrotteten Staates geworden.
Nicht nur die auf fast 20 Prozent gestiegene Arbeitslosigkeit macht dem angeschlagenen Kabinett von Regierungschefin Jadranka Kosor zu schaffen. Über 70 Prozent der Kroaten unterstützen laut Umfragen die sich ausweitenden Proteste. Die zunehmend unpopuläre HDZ-Chefin lehnt jedoch Neuwahlen vor Abschluss der EU-Beitrittsverhandlungen resolut ab. Ein vorzeitiger Urnengang und eine langwierige Regierungsbildung könnten den Zeitplan für den EU-Beitritt gefährden, so Kosor.
Die sozialdemokratische Opposition und Präsident Ivo Josipović stimmen ihr zumindest bei der Absicht zu, die Volksbefragung über den EU-Beitritt erst nach den Parlamentswahlen abzuhalten – und die beiden Urnengänge nicht zusammenzulegen. Es wäre „nicht gut“, würde das EU-Referendum zum Votum über die Regierung, warnt Josipović.
EU-Flaggen in Flammen
Bei den Protestdemonstrationen gingen erste EU-Flaggen in Flammen auf. Schon im November hatten bei einer Umfrage des Gallup-Instituts nur noch 38 Prozent der Kroaten erklärt, bei einem Volksentscheid für den EU-Beitritt zu stimmen. 43 Prozent wollten dagegen votieren, der Rest gab sich unentschlossen. Die latente EU-Skepsis scheint seitdem noch gewachsen zu sein. Bringt sich der EU-Anwärter am Ende des Beitritts-Marathons selbst ins Straucheln? An ein Scheitern in den Wahlkabinen mag Präsident Josipović lieber nicht denken: „Das wäre eine Niederlage für den gesamten Staat, die Kroatien weit zurückwerfen würde.“
("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2011)