Im Nebel hausen Evas schmutzige Kinder

Symbolbild.
Symbolbild.(c) AP (JOHN MCCONNICO)
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Island. Brutal brandet das Polarmeer gegen die steilen Klippen und in die Fjorde des „verlassenen Landes“. Im äußersten Nordosten der Insel leben nur noch 150 Menschen – inmitten des von Gott verstoßenen Volks der Unsichtbaren.

In den Regen mischen sich dicke Schneeflocken. Der Blick aus dem Fenster des Minibusses reicht kaum zehn Meter weit. Die Nebelschwaden lichten sich kurz und geben den Blick auf ein Holzkreuz frei. Die Inschrift besagt: „Wer hier vorbeigeht, soll niederknien und das Zeichen Christi ehren. Im Jahr 1306.“ Es ist das Naddikreuz.

Einst hauste hier das Monster Naddi, halb Mensch, halb Tier und tötete Reisende, die sich in die Abgeschiedenheit von Islands Nordosten wagten. Schließlich schaffte es ein Bauer, das Monster ins Meer zu werfen, und errichtete das Kreuz. Die Menschen sollten hier innehalten und den Segen für eine sichere Reise in die einsame Welt des Víknaslóđir erbitten. Achtlos fährt der Bus daran vorbei.

Früher sind Reisende dem Kreuz ehrfürchtiger begegnet. Denn bis 1949 war die Strecke nach Bakkagerđi nur zu Fuß oder auf dem Pferderücken zu bewältigen. Viel hat sich daran bis heute nicht geändert, nur eine unbefestigte Piste verbindet Bakkagerđi mit der Außenwelt und endet als Sackgasse in einem verlassenen Fjord. Alle anderen Wege sind mit Reiter- und Fußgängersymbolen markiert.

Es sind die Pfade durch das Víknaslóđir, das „verlassene Land“, wie es die Einheimischen mit merkbarem Stolz nennen. Knapp 150 Einwohner leben in Bakkagerđi – ansonsten ist das Víknaslóđir auf einer Fläche von über 500 Quadratkilometern menschenleer.

Verborgene, schroffe Urwelt

Die Anfänge Islands sind in dieser Landschaft verewigt. Majestätische Berge thronen über den Tälern, sie haben Gletscher kommen und gehen sehen, die ihre Spuren in die Felsen gemeißelt haben. Die Feuer uralter Vulkane, die die Geburt Islands vor 24 Millionen Jahren eingeläutet hatten, schufen die Berge und erloschen wieder. Es ist eine verborgene, mystische Welt.

Schroffe Bergketten riegeln das Víknaslóđir vom übrigen Island ab. Die Küste ist aufgefächert in unzählige Buchten. Das Gebiet ist reich an Vogelleben – und über all dem wachen die Elfen. Der Legende nach kam Gott einst auf einen Besuch bei Adam und Eva vorbei. Eva aber schaffte es nicht, all ihre Kinder zu waschen und versteckte die schmutzigen. Gott war enttäuscht und entschied, was vor ihm versteckt sei, soll auch den Menschen verborgen bleiben. So wurden die schmutzigen Kinder unsichtbar. Von ihnen stammen die Elfen ab. Das verborgene Volk ist auf ganz Island beheimatet, doch im Víknaslóđir haben sich besonders viele seiner Vertreter versammelt, darunter vor allem die Prominenz der Elfen. Kein Berg, kein Fels, auf dem nicht ein nennenswertes Mitglied wohnt. Die meisten Touristen lassen das Gebiet auf ihrer flotten Reise um die Insel links liegen. Das Víknaslóđir verlangt Ruhe und Langsamkeit. Vielleicht ist das der Grund, warum die Elfen sich hier so wohl fühlen. Die Verbindung ins Elfenland gewährleistet ein Minibus. Er fährt zwischen Bakkagerđi und Egilsstađir, dem Versorgungszentrum im Osten Islands. Die Piste klettert in Serpentinen die Berge hinauf und taucht in eine weiße Schneewelt ein. Immer wieder reißen Fetzen aus der Wolkenwand und fegen wie tanzende Dämonen über die Bergkämme hinweg. Dann windet sich die Piste über den Pass in das breite Tal hinab und gibt den Blick auf das Eismeer frei.

Residenz der Elfenkönigin

Bald tauchen die ersten Häuser von Bakkagerđi auf. Die Straßen sind menschenleer. Der kleine Ort strahlt eine nordische Romantik aus – zumindest für Menschen, die es mögen, wenn sie scheinbar das nördliche Ende der Welt erreicht haben. Diese Abgeschiedenheit hat sich die Elfenkönigin als Residenz erwählt. Sie wohnt am Ortsrand auf einem dreißig Meter hohen Felsen.

Endlich reißen die Wolken auf. Zum ersten Mal zeigt sich das Dyrfjöll-Massiv, das das Víknaslóđir nach Westen abschirmt. Als hätte ein Riese mit einem Karateschlag die Berge zerteilt, werden sie durch eine gewaltige Pforte getrennt. Haffi, ein junger Bergführer, wirft einen prüfenden Blick auf die Bergkette. „Es wird ordentlich kalt, aber die Wege sind passierbar. Wenn ihr euch in fünf Tagen nicht meldet, suchen wir euch.“

Die Hilfsbereitschaft der Isländer ist groß und selbstverständlich. Sie stammt aus alten Tagen und hat in dieser harten Natur bis heute ihre Notwendigkeit. Drei Hütten stehen auf dem Weg für Wanderer offen. In vier Tagen geht es durch das „verlassene Land“ bis nach Seydisfjörđur im Süden.

Der Weg zieht sich über Schneefelder nach Osten hinauf zum Pass der Gangnheiđi. Ein eiskalter Sturm fegt ungebremst über den Passrücken, doch die Aussicht macht es unmöglich, sofort weiterzugehen. Im Osten liegt die Bucht von Breiđavik. Es ist ein Blick in eine neue Welt. Dort scheint die Sonne und leuchtet auf den schmalen Weg, der sich hinunterzieht über daunenkissenweiche Moospolster und entlang an glucksenden Bächen in ein grünes Tal. Die schwarzen Basaltberge sind verschwunden, es erhebt sich eine bunte Gebirgswelt. Die Felswände leuchten in allen Schattierungen von Gelb, Rot, Grün und Braun. Ganz vorn am Meer liegt der Blábjörg, auf dem sich der Bischof der Elfen niedergelassen hat. Davor steht der Sólarfjall, auf dem der Polizist der Elfen wacht – auch bei den Elfen wohnt die Prominenz in bester Lage direkt am Meer. Ein schwarzer Strand schließt das Tal ab. Die staubende Gischt bricht die Sonnenstrahlen in diffuses Licht und lässt die Landschaft wie durch einen Weichzeichner gefiltert erscheinen.

Winterstürme, wilde Brandung

Die Stille beherrscht Breiđavik. Hier haben bis 1945 zwei Farmen ums Überleben gekämpft. Ihre Grundmauern liegen noch sichtbar am Hang. Die Lebensbedingungen sind hart. Winterstürme fegen von Nordost heran, die starke Brandung macht es schwer, mit Fischerbooten hinauszufahren, und die dünnen Küstenstreifen bieten kaum fruchtbaren Boden.

Als sich mit dem einsetzenden Heringsboom aus den Häfen Dörfer entwickelten, verließen die Menschen ihre Farmen in der Hoffnung auf ein besseres Leben. Kurz vor dem Strand liegt die grüne Hütte, liebevoll mit allem eingerichtet, was ein Wanderer für eine gemütliche Nacht braucht. Ein Holzfeuer im Kamin vertreibt die Minusgrade der Nacht. Hier findet man vor allem eines: Ruhe. Eine Formation Singschwäne fliegt im diffusen Licht auf die schwarze Vulkanwand zu. Sind es Schwäne, sind es Elfen? Man ertappt sich dabei, neue Vorstellungen zu wagen, vielleicht, weil man hier glauben möchte, dass sie wahr sind.

Von Breiđavik zieht der Weg hinauf auf die Hochebene der Viknaheiđi. Immer wieder müssen kleine Bachläufe gequert werden, bis sich die glitzernden Wasserflächen der Gæsavötn-Seen ausbreiten. Dann windet sich der Weg durch das Gunnhildardalur hinab in die Bucht von Husavik. Eine Wanderhütte kuschelt sich an steile schwarze Felswände, die sich wie eine Trutzburg weit über das Tal erheben. Nach dem nächsten Pass ist der Lođmundarfjörđur, der südlichste der verlassenen Fjorde, erreicht. Eine schwarze Sandzunge schiebt sich quer über den Wasserarm. 2009 hat hier eine neue Unterkunft eröffnet. Am Talboden zieht eine Rentierherde vorbei. Sie sind die neuen Herren im Fjord, die Einsamkeit ist ihre Heimat.

Noch einmal steigt der Weg steil durch das Hjámárldalur auf eine Hochebene. Kaum ist der Pass erreicht, eröffnen sich herrliche Blicke auf den gewaltigen Seydisfjörđur, fast senkrecht kippt der Weg die Flanken hinunter zum Meer. Mit dem Abstieg führt jeder Schritt hinaus aus dem verlassenen Land und seinem Zauber. Nach vier Tagen wartet die Dusche im kleinen Dorf Seydisfjörđur. Aber keine Eile, schließlich nahmen selbst die Elfen schmutzig ihren Anfang.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.04.2011)

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