20 Jahre Ötzi: Bergsteiger aus dem Neolithikum

Grad oesterreich Jahre oetzi
Grad oesterreich Jahre oetzi(c) EPA (Museo Archeologico Alto Adige/Ho)
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Am 19. September 1991 entdeckte ein deutsches Ehepaar eine 5300 Jahre alte Gletscherleiche. Seither begeistert Ötzi nicht nur die Wissenschaft, sondern vor allem auch die Touristiker.

Es war der Sommer der Toten. Ein warmer Scirocco hatte 1991 Sand aus der Sahara bis nach Österreich geweht, die Gletscher schmolzen wegen der feinen Sandschicht schneller als üblich und gaben frei, was sie viele Jahre konserviert hatten. Fünf tote Bergsteiger hatte man bereits aus dem Eis in Tirol geholt, also dachte sich Alois Pirpamer nicht viel, als er am 19. September wieder einen Anruf erhielt. Ein deutsches Ehepaar habe eine Leiche gefunden oben am Hauslabjoch, teilte man dem damaligen Leiter der Bergrettung von Vent im hintersten Ötztal mit.

Tage später kletterte Pirpamer mit einem Freund hinauf, gemeinsam hackten sie mit einem Pickel die Leiche frei. Reinhold Messner, der zufällig vorbeikam, schätzte, dass der Tote schon 300 Jahre im Eis lag. Man schüttelte nur den Kopf über den Südtiroler, der sich wohl wieder einmal wichtig machen wollte. Die Leiche wurde im Hubschrauber nach Innsbruck geflogen, die Staatsanwaltschaft eröffnete formell ein Verfahren gegen unbekannte Täter und legte einen Akt an: ST 13 UT 6407/91.

Erst fünf Tage nach dem Fund dämmerte Experten, was man hier entdeckt hatte: Nicht einfach einen Bergsteiger, der ein paar Jahrzehnte im Eis lag. Vor sich hatte man den hervorragend erhaltenen Leichnam eines Mannes aus dem Neolithikum, 5300 Jahre alt; älter als alle bisherigen Menschenfunde, unglaubliche 2000 Jahre älter als Tutenchamun. Eine Weltsensation, eine Quelle wissenschaftlicher Premieren – und eine nachhaltige Touristenattraktion.

„Wir halten ziemlich konstant bei 50.000 Besuchern pro Jahr“, erzählt Leonhard Falkner vom „Ötzi-Dorf“ in Umhausen. Die Ortschaft kannte man früher nur vom Durchfahren nach Sölden. Heute ist das Freilichtmuseum, in dem die Zeit Ötzis nachgestellt wird, eine der bestbesuchten Attraktionen Tirols. Wie viele Millionen Umsatz man mit dem Mann aus dem Eis in den vergangenen 20 Jahren gemacht hat, wagt man beim Tirol Tourismus nicht einmal zu schätzen. Aber eines weiß man: Neben den Bergen gibt es wenig, das so gut zieht. Und deshalb wird der Homo Tirolensis an diesem Wochenende an seinem 20. Fundtag gefeiert, wie zuletzt nur Andreas Hofer an seinem 200. Todestag.
»Schnalsi« und »Frozen Fritz«. Den neuen Tiroler Volkshelden teilt sich das getrennte Tirol nicht ganz freiwillig. Denn eigentlich ist der Ötzi kein Ötzi, weil er nicht im Nordtiroler Ötztal gefunden wurde, sondern – nach einer detaillierten Vermessung – 92,56 Meter südlich der heutigen Grenze zu Österreich im Südtiroler Schnalstal. Demnach ist Ötzi in Wahrheit ein „Schnalsi“. Der Name setzte sich freilich so wenig durch wie „Frozen Fritz“, die Schöpfung der britischen Boulevardpresse. Die italienische Presse spricht übrigens sehr neutral von der „Mumie von Similaun“.

In Wirklichkeit, witzelte Albert Zink, der das für Ötzi gegründete „Institut für Mumien und den Iceman“ in Bozen leitet, ausgerechnet in der „Süddeutschen Zeitung“, könne Ötzi ja weder Nord- noch Südtiroler sein, sondern nur Deutscher: „Nur die gehen mit Sandalen ins Gebirge.“

Ötzi also, und das überall. In Südtirol hat man ein Gegenstück zum Umhausener Ötzi-Dorf, den „ArcheoParc“ eröffnet. Es gibt Ötzi-Wanderwege, man hat ihn in Gummibärchen-Form gepresst, einen Energydrink nach ihm benannt, hin und wieder braut man spezielles Ötzi-Bier (ein starkes Weizenbier), und wer konditionell stark genug ist, wandert die 1300 Höhenmeter hinauf zur Fundstelle auf dem Hauslabjoch. Auf der Similaunhütte kann man sich dann am Abend die vielen Geschichten rund um den Hirten aus der Steinzeit anhören.


Tiroler Pharaonenfluch. Etwa die vom „Fluch“: Viele, die bei der Bergung und bei den ersten Untersuchungen dabei waren, starben. Helmut Simon etwa, der deutsche Wanderer, der den Ötzi im Eis entdeckte, kam bei einer Bergwanderung in Salzburg ums Leben. Gerichtsmediziner Rainer Henn starb 1992 bei einem Verkehrsunfall. Ein Journalist, der als einer der Ersten über Ötzi berichtete, erlag einem Krebsleiden. Der Urgeschichtler und Ötzi-Forscher Konrad Spindler starb 2005 nach langer, schwerer Krankheit. Nach einigen Bier weiß immer irgendeiner aus der Runde, dass Spindler über den Fluch noch gelacht und scherzhaft gemeint haben soll: „Werde ich der Nächste sein?“ Dass die Todesfälle statistisch nicht auffällig sind, tut den Erzählungen keinen Abbruch. Es ist die Tiroler Version des Fluchs des Tutenchamun.

Ein Kind vom Ötzi. Auf der anderen Seite stehen Geschichten von Menschen, die ihre Liebe zu Ötzi entdeckten – teilweise wortwörtlich. „Ich fühle mich als gute Mutter für ein Kind von Ötzi“, schrieb eine Dame und bot an, das „zweifellos gut erhaltene“ Sperma des 5300 Jahre alten Mannes zu empfangen. Einer wollte das Museum wissen lassen, dass er in einem seiner letzten Leben Ötzi war, ob das vielleicht von Interesse sei? Und ein anderer warnte vor der Aufregung um den Steinzeitmenschen: Anhand der Tätowierungen erkenne er nämlich ganz eindeutig „meinen Onkel Enno“.

Onkel Enno vulgo Ötzi liegt im Südtiroler Archäologiemuseum in Bozen hinter dickem Glas bei konstant minus sechs Grad und einer Luftfeuchtigkeit von 98 Prozent, die Bedingungen im Gletschereis. Aus der mit Eis ausgelegten Kammer holt man ihn nur noch selten, entdeckt dann aber trotzdem immer wieder Neues. Wie den Umstand, dass sein Magen voll war (siehe nebenstehenden Bericht). Damit man ihn trotzdem der Welt zeigen kann, gibt es eine originalgetreue Kopie des Steinzeitmenschen, die für Ausstellungen verschickt wird.

Die hätte man im Südtiroler Schnalstal auch gern. „Man hat uns nichts gelassen“, klagt Manfred Waldner, Chef des Tourismusverbands. „Alle Fundstücke sind in Bozen.“ Und in das Sackgassen-Tal fahren nicht so viele Touristen. Man hilft sich mit der Herstellung und dem Verkauf einzigartiger Ötzi-Patschen aus Schafwolle, denen man den originellen Namen „iPotsch“ gegeben hat. Somit bleibt Waldner nur eine Hoffnung: „Vielleicht findet man irgendwann seine Frau.“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.09.2011)

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