Türkei-Beben: Neubauten wurden zur Todesfalle

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Nach dem schweren Erdbeben in der Osttürkei wurden bisher mehr als 279 Tote geborgen, noch hunderte werden Menschen vermisst. Viele eingestürzte Häuser waren neuwertig, bei ihrem Bau wurde offenbar gepfuscht.

Istanbul. Nach dem schweren Erdbeben in der Osttürkei vom Sonntag wurden bis Montag mindestens 279 Todesopfer geborgen. Mehr als 1300 Menschen wurden verletzt. Die Zahl der Toten dürfte sich aber noch stark erhöhen, weil zahlreiche mehrstöckige Häuser im Raum um die Provinzhauptstadt Van einstürzten und hunderte Personen vermisst werden.

Van liegt nur 16 Kilometer vom Zentrum des Bebens der Stärke 7,3 entfernt und kam insgesamt wohl noch recht glimpflich davon. Auf einigen Straßen liegen abgebrochene Betonstücke verstreut, aber „nur“ etwa ein Dutzend Gebäude kollabierte in Van. Allein darin fand man allerdings mehr als 100 Tote. Weit schwerer wurde die 80.000-Einwohner-Stadt Ercis getroffen, mehr als die Hälfte der bisher geborgenen Toten lebte hier. Und der Bürgermeister des nahen Ortes Celebibag sagte, es lägen dort noch viele Menschen unter den Trümmern: „Wir können ihre Schreie hören.“

Fluch des jähen Baubooms?

Aus einem Gefängnis flüchteten mehr als 200 Insassen, nachdem eine Außenwand kollabiert war. Etwa 50 von ihnen kamen später wieder zurück, nachdem sie sich versichert hatten, dass es ihren Familien gut geht.

Van (rund 360.000 Einwohner), die östlichste Metropole der Türkei, liegt auf einer Hochebene am hübschen Van-See unweit der Grenze zum Iran. Der Handel mit diesem hat die Stadt in den letzten Jahren relativ reich gemacht, stark geschminkte Iranerinnen in den Einkaufsstraßen gehören ebenso zum Stadtbild wie die vielen Samowars in den gut besuchten Teehäusern und streitende Busfahrer. Es scheint, dass der Boom Van zum Verhängnis wurde, denn Zeugen berichten, dass die eingestürzten Gebäude allesamt neuen Baudatums gewesen seien, während alte Häuser meist unversehrt blieben. Eklatantes Beispiel ist ein Gebäude mit einem Autosalon im Parterre und Studentenwohnungen darüber, das in sich zusammenfiel wie ein Kartenhaus. Offenbar hatte man, um mehr Verkaufsfläche zu erhalten, tragende Bauteile entfernt. Ein Problem, das in der Türkei weit verbreitet ist.

Nach einem Erkundungsflug im Hubschrauber sagte Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, er habe viele stark zerstörte Dörfer gesehen. Dorfhäuser in der Region werden noch großteils aus Lehmziegeln gebaut, so dass sie bei Beben, die dort an sich nicht selten sind, leicht einstürzen.

Hilfsangebot Israels abgelehnt

Die Hilfe dürfte gut angelaufen sein, zudem kamen auch aus dem Iran, Aserbaidschan und sogar Pakistan Trupps, die unter anderem ein Feldlazarett mitbrachten.

Ein Hilfsangebot Israels wurde abgelehnt. Wenig später sagte Erdoğan, dass sein Land überhaupt keine fremde Hilfe benötige, und lehnte dankend Angebote aus Deutschland und den USA ab. In der Region soll es freilich noch an Decken, Zelten und Öfen fehlen, für die nächste Zeit werden strenge Nachtfröste vorausgesagt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.10.2011)

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