„Ich möchte hören, wie der Reporter fast weint“

Interview. ARD-Korrespondentin Glass über Provinzielles in ORF, Politik, Wirtschaft – und Kärnten als „Griechenland Österreichs“.

Die Presse: Sie arbeiten seit 1999 in Österreich. Was war Ihr erster Eindruck? Ein provinzieller?

Susanne Glass: Der eines sehr kleinen und auch eher auf sich selbst gerichteten Landes. Gleichzeitig hatte ich den Eindruck, es gibt hier einen starken Minderwertigkeitskomplex gegenüber Deutschland. Mit großem Respekt, aber auch Neid hat man sich daran orientiert, wie es Deutschland macht, und das zu kopieren versucht. Heute scheint mir Österreich emanzipierter. Das Schwanken zwischen Minderwertigkeitskomplex und Selbstüberschätzung hat sich eingependelt.

Woran liegt das, glauben Sie?

Schwarz-Blau war irgendwie besonders, schon durch die Sanktionen der EU-Partner. Die Regierung hat sich damals einen Schutzpanzer zugelegt, auch gegenüber ausländischen Journalisten. Danach hat sich wieder viel geändert. Außenpolitik hat aber trotzdem lange praktisch nicht stattgefunden. Inzwischen will der Kanzler wieder außenpolitisch wahrgenommen werden, und er hat seine Liebe zur EU entdeckt. Sicher auch wegen der Krise, aber er sieht es heute schon als etwas, womit man punkten kann, denke ich.

Sie haben von einem Einpendeln zwischen Extremen gesprochen. Ist Österreich schizophren?

Fakt ist, dass Österreich einerseits nicht gern über den Tellerrand hinausblickt, andererseits aber doch sehr international orientiert ist. Es hat ja auch von der Ostöffnung stark profitiert. Da ist man offen, im Tourismus, in der Wirtschaft. Gleichzeitig gibt es diese xenophoben Töne im Wahlkampf. Das überrascht mich immer wieder. Übrigens auch das ständige Lamentieren über Provinzialität. Das gibt es in Deutschland nicht. Es hat sicher damit zu tun, dass Österreich sozusagen auf den Rest eines Großreichs geschrumpft ist. Das hat sich wohl in die Seelen eingebrannt.

Halten Sie Wien für eine Weltstadt?

Auf jeden Fall. Wien hat sämtliche Vorteile einer Weltstadt, siehe Kultur, siehe Öffnung. Und die Stadt verknüpft das mit den Vorteilen einer Provinz, darunter fällt die große Sicherheit in Wien. Es ist hier sehr angenehm und auch bequem zu leben.

Stichwort Kultur: Wie bewerten Sie, auch als Chefin der Auslandspresse in Wien, die Berichterstattung in Österreich?

Was mir auffällt und mich manchmal auch schockiert: Immer wird Österreich in den Mittelpunkt gestellt. Selbst beim Tsunami hat man zuerst eine Meldung über zwanzig tote Österreicher gemacht und erst danach die viel, viel größere Zahl der Todesopfer in der Welt genannt. Im politischen Journalismus sehe ich eine teils starke Verhaberung zwischen Politikern und Journalisten, gleichzeitig traut man einander nicht. Das scheint mir typisch österreichisch. Ein positiveres Beispiel ist, dass man über Medien, praktisch auf allen Kanälen, so stark für das Skifahren mobilisiert. Das ist doch erstaunlich!

Bei Sportübertragungen wird ja auch gern zuerst über den Österreicher auf Platz drei berichtet und erst dann über die Ausländer an der Spitze.

Ach, das finde ich sogar charmant. Wenn ich auf der ARD eine Sportberichterstattung sehe und sich eine Tragödie oder ein Sieg für Österreich abzeichnet, dann schalte ich sofort zum ORF um. Dann möchte ich hören, wie der Reporter fast weint oder ausflippt. Die Deutschen machen das ja ganz distanziert. Okay, das ist die Sportberichterstattung, das ist auch mal schön. Ansonsten darf die Weltoffenheit aber nicht zu kurz kommen.

Wundern Sie sich manchmal über die große Macht der Bundesländer? Österreich ist ja insgesamt so groß – oder klein – wie Bayern.

Natürlich. Aber es ist schwierig, Österreich in einen Topf zu werfen. Wien etwa ist ganz anders als Kärnten. Denn Kärnten ist tiefste Provinz. Es ist sozusagen das Griechenland Österreichs. Ob ein so kleines Bundesland sich noch so wichtig fühlen muss? Da würde ich mich fast darüber freuen, wenn seine Kompetenzen beschnitten würden.

Glauben Sie, dass die Provinzialität Österreich korruptionsanfälliger macht?

Nun ja. Überall, wo man sich gut kennt und klein und fein zusammensitzt, ist die Anfälligkeit für Korruption sicher deutlich größer. Es gibt sie aber auch in größeren Ländern wie Deutschland. Auffallend ist nur, dass sie in Österreich oft sehr lange hingenommen wird.

Zur Person

Susanne Glass, geboren 1970 in Baden-Württemberg, ist ARD-Korrespondentin für Österreich und Südosteuropa und als solche für zwölf Länder zuständig und dazu von ihrem Heimatsender, dem Bayerischen Rundfunk, schon seit 1999 ins ARD-Studio Wien entsandt. Sie verfolgt die Entwicklung der Region seit dem Kosovo-Krieg, den EU-Sanktionen gegen die schwarz-blaue Regierung in Wien oder dem Parlamentssturm in Belgrad.

Zuvor war die promovierte Politologin und Volkswirtin u.a. Juniorkorrespondentin für den Bayerischen Rundfunk (BR) in Bonn (damals Regierungssitz), Chefin vom Dienst in der BR-Hörfunk-Nachrichtenredaktion, Moderatorin der Bayern-3-Nachrichten sowie freie Mitarbeiterin der „Süddeutschen Zeitung“. Seit 2006 ist Glass außerdem Präsidentin des Verbandes der Auslandspresse in Wien. [Beigestellt]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2012)

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