Erdoğan: „Massaker an der Meinungsfreiheit“

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Das am Montag vom Senat in Paris abgesegnete „Armenier-Völkermord-Gesetz“ empört Ankara. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan reagierte am Dienstag wutschnaubend.

Der Streit zwischen der Türkei und Frankreich wegen der Armenierfrage eskaliert: Montagabend hat der Senat in Paris einem Gesetz zugestimmt, das das Leugnen des Genozids an Armeniern im Osmanischen Reich im Ersten Weltkrieg unter Strafe stellt. Der türkische Premier Recep Tayyip Erdoğan reagierte am Dienstag wutschnaubend: Er sprach von „rassistischem Kleingeist“, „Geräusch der Schritte des Faschismus in Europa“ und „Massaker an der Meinungsfreiheit“.

Konkrete Retorsionsmaßnahmen deutete er nicht an, man gedulde sich. In Rede stehen aber die Ausweisung des französischen Botschafters und eine Sperre der Häfen für Kriegsschiffe des Nato-Partners Frankreich. Zudem bestehe ja noch die Chance, dass der französische Verfassungsrat das Gesetz kassiert, wenn es mindestens 60 Senatoren anfechten. Was möglich wäre: Der Senat hat das Gesetz, das im Dezember vom Nationalrat beschlossen wurde, mit 127 zu 86 Stimmen abgesegnet.

Heftiges armenisches Lobbying

Wobei dieses formell gar nicht direkt auf die Armenierfrage zugeschnitten ist: Es stellt die Leugnung jedes Genozids, der in Frankreich als solcher anerkannt ist, unter Strafe, es drohen zwölf Monate Haft und Geldbußen bis 45.000 Euro. Die Übergriffe auf die Armenier, die großteils 1915/16 stattfanden und bei denen 300.000 bis 1,5 Millionen Menschen starben, gelten aber seit 2001 als Völkermord – und zum Votum kam es effektiv durch heftiges Lobbying diverser in- und ausländischer Interessengruppen, darunter von Armeniern.

Umgekehrt demonstrierten noch am Samstag in Paris rund 15.000 Türken und Franzosen türkischer Herkunft gegen das Gesetz. Es sei ein rein politisches „Geschenk“ der Großparteien an die 500.000 Wähler armenischer Herkunft, die in Frankreich eine einflussreiche Gemeinschaft seien.

Auch in türkischen Medien war die Empörung groß: Das Massenblatt „Hürriyet“ schrieb in großen Balken: „Sie haben die Demokratie ermordet!“ Die religiöse Zeitung „Zaman“ sah eine „historische Schande“. Zudem kündigten türkische Hacker Angriffe auf die Webseiten und Server französischer Medien und Behörden an.

Zurückhaltung bei Sanktionen

Erdoğan freilich scheint mit seiner lauten, aber keine konkreten Drohungen beinhaltenden Rede kühlen Kopf bewiesen zu haben. Die Mitgliedschaft der Türkei in der Europäischen Zollunion hindert ihn ohnehin an offenen ökonomischen Sanktionen. Auch die Andeutung vom Vortag, er überlege sich, ob er nach Verabschiedung des Gesetzes noch nach Frankreich reisen werde, hat er nicht wiederholt. Frankreich ist politisch zu wichtig, als dass Erdoğan die diplomatischen Kontakte auf ein Minimum herunterfahren könnte. Man denke sich etwa einen Gipfel der Nato oder ein Treffen der G20 in Paris, und Erdoğan fährt nicht hin, weil er Frankreich zürnt.

Derweil könnte sich die Sache noch stärker gegen die Türken wenden: In den USA ist heuer Präsidentenwahl und der politische Druck dort groß, den Völkermord anzuerkennen. Die Völkermordfrage ist für die Türkei eine außenpolitische Last – umso mehr, je heftiger Ankara reagiert. Es gibt Türken, die das erkannt haben. So schreibt Murat Yetkin in der Intellektuellenzeitung „Radikal“, Erdoğans AKP-Partei erkläre „naiv“, nicht Türken, sondern Armenier hätten gemordet; aber davon könne sie nicht viele fremde Regierungen und Parlamente überzeugen.

Zudem ist die Frage: Was soll Ankara machen, wenn der erste Türke verurteilt wird, weil er den Völkermord geleugnet hat? Das könnte gerade ein sogar in türkischen Regierungskreisen ungeliebter Quertreiber machen und ein Handeln erzwingen. Vorgemacht hat es der Chef der maoistischen Arbeiterpartei, Doğu Perinçek: Der hat sich mit der Leugnung der Armeniermorde eine Geldstrafe in der Schweiz eingehandelt. Vor ihm persönlich ist man allerdings sicher, denn er sitzt als mutmaßlicher Terrorist seit Jahren in der Türkei in Untersuchungshaft.

Frankreich als historischer Retter

Letztlich haben sich die wilden türkischen Drohungen mit Abbruch der politischen und wirtschaftlichen Kooperation zu Frankreich als kontraproduktiv erwiesen. Jedes Zurückweichen wäre als Kapitulation ausgelegt worden.

Zumal Frankreich in der Sache selbst historisch verfangen ist: Als sich 1915 tausende Armenier an der syrischen Küste vor türkischen Truppen auf einem Berg verschanzten (Franz Werfel schrieb darüber den Roman „Die vierzig Tage des Musa Dagh“), kam ihnen kurz vor der Niederlage eine Flotte vor allem französischer Kriegsschiffe um den Kreuzer „Guichen“ zu Hilfe und rettete sie.

Hintergrund

1915 ließ die osmanische Regierung die Armenier nach Syrien umsiedeln, weil sie angeblich den Feinden im I. Weltkrieg, vor allem Russland, halfen. Die armenische Gemeinde Konstantinopels wurde hingemetzelt, viele starben auf Märschen durch die Wüste. Opferzahl: zwischen 300.00 und 1,5 Mio.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2012)

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