Russland: Wird Putin ein Opfer seines Erfolgs?

(c) EPA (ALEXEY NIKOLSKY/POOL)
  • Drucken

In der Regierungszeit von Wladimir Putin sind seit 1999 breite Bevölkerungsschichten zu Wohlstand gekommen. Nun verabschieden sie sich von ihrem Vormund. Der neue Mittelstand zeigt sich demonstrativ unzufrieden.

Moskau. Michail Gorbatschow musste es wissen. Der Mann, der selbst von der Geschichte überrumpelt wurde, hatte schon als Sowjetchef vor über 20 Jahren seinen Vasallen erklärt, dass vom Leben bestraft werde, wer zu spät komme. Sieht man die aktuellen Vorgänge in Russland, fühlt man sich ein wenig daran erinnert.

Noch droht Wladimir Putin das politische Ende nicht, denn jene Schichten, die direkt am Tropf des Staates hängen, sehen in ihm weiter den Garanten der Stabilität – wie etwa die Senioren, die vom Regierungschef am Freitag mit einer siebenprozentigen Pensionserhöhung beschenkt wurden, die bereits im Februar in Kraft treten soll. Also rechtzeitig zur Präsidentenwahl am 4. März.

Wer hingegen nicht vom Staat lebt, sondern mit Risiko auf die eigene Initiative baut, hat mit Putin längst gebrochen. Demonstrativ unzufrieden sind der neue Mittelstand, Führungskräfte aus dem Banken- und IT-Sektor, Fachleute aus dem Medien- und Kunstbereich – allesamt gebildete Bürger unter 40, die auf ihre persönliche Entwicklung Wert legen. Das kann jemand, der wie Putin selbst immer vom Staat gelebt hat, kaum verstehen. Wie kann ein Teil der Gesellschaft, der ja von der Stabilität profitiert hat, nun ihren Garanten und die Fortsetzung dieses Weges in Frage stellen? Wie können diese Leute plötzlich den ungeschriebenen Gesellschaftsvertrag brechen, dem zufolge sie zu Wohlstand kommen konnten, sofern sie keine politische Partizipation verlangten?

„Veränderungen unausweichlich“

Sie können. Und im Grunde realisieren sie nur die sogenannte Lipset-Modernisierungstheorie, der zufolge ein gewisses Wohlstandsniveau Hauptbedingung dafür ist, dass ein zentralistisches System zur Demokratie wird. Auch wenn die Theorie umstritten ist: Putin selbst hing ihr immer an. Gewiss, er selbst attestiert dem Volk die demokratische „Reife“ noch nicht. Allein, schreibt Sergej Guriew, Rektor der Moskauer New Economic School, in einer Analyse: „Die Wirtschaft hat bereits ein derartiges Niveau erreicht, bei dem politische Veränderungen unausweichlich sind.“ Guriew meint die Nachfrage nach korruptionsfreien Institutionen: Die Russen wollen, dass der Staat ihr Eigentum schützt.

Als Gegenargument führt Putin an, dass sich Russland immer noch im Umbruch befinde – und im Fluss solle man die Zugpferde nicht wechseln, wie ein russisches Sprichwort besagt. Auch klagt er darüber, einen scharfen Gegenwind der Undankbarkeit zu spüren.

In gewisser Hinsicht macht Putin sich und allen auch etwas vor: Erstens, dass gerade er, der ein autoritäres Regime restauriert hat, seinem Volk die demokratische Reife attestieren könne. Zweitens, dass der wirtschaftliche Boom und das Krisenmanagement seit 2008 allein das Verdienst von seinen fundamentalen Reformen seien – und nichts mit dem historischen Glücksfall eines beispiellos hohen Ölpreises zu tun hätten, der selbst Putins Reformverweigerung ab 2005 und das unheilvolle Experiment des Staatskapitalismus mit seinem unlauteren Wettbewerb und systemimmanenten Ineffizienzen eine Zeit lang zu kaschieren vermochte.

Russland erlebt in gewisser Weise einen Generationenkonflikt. Mit ihm einher geht der Streit zwischen Paternalismus und Privatinitiative. Putin ist überzeugt, dass sich die Leute den Wohlstand nicht selbst erarbeitet haben, sondern er ihnen diesen gewährt hat. Und urteilt man nach seinen jüngsten Aussagen zur Arbeitsplatzbeschaffung, so setzt sich diese Illusion fort, dass nämlich der omnipotente Staat alles machen muss, wiewohl es reichen würde, wenn er nicht störte – ein Grundsatz, den Putin als Judoka wissen müsste, wird doch jede Bewegung umso schneller, je weniger Muskeln aktiviert, sprich hinderlich sind. Die Einschätzung des derzeit hyperaktiven Ex-Finanzministers Alexej Kudrin, Putin würde sich im angebrochenen Jahrzehnt als pragmatischer „Putin 2.0“ neu erfinden, ist daher bisher nur schwer nachvollziehbar.

„Die da oben wollen nicht“

Evidenter sind dagegen zwei Sollbruchstellen, an denen Russland angelangt ist, wie Wladimir Nazarov, Ökonom des Moskauer Gajdar-Instituts, meint: Zum einen der historische Konflikt zwischen einem feudalen politischen System mit seiner Rohstoffökonomie und den Erwartungen der nicht privilegierten Schichten, also der Mehrheit der Bevölkerung; zum anderen die Sollbruchstelle der national-ethnischen Spannungen. Noch herrsche keine Revolutionssituation, sondern nur ein ziviler Konflikt. Aber die Positionen sind verfahren: „Die oben wollen nicht auf neue Art und die unten nicht auf alte Art leben.“

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Kommentare

Abgelutschtes Wahlzuckerl

Putins Pensionserhöhung wirkt – aber nur kurzfristig.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.