Das elfte Gebot muss heißen: Schäm dich!

(c) REUTERS (JONATHAN ERNST)
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Strafen: „Listen der Schande“ haben Hochkonjunktur. Immer mehr Menschen setzen auf die Scham als Mittel sozialer Kontrolle. Und dank Internet ist diese Kontrolle so einfach wie nie. Die Folgen sind verheerend.

Schamlosigkeit war schon die Quelle griechischer Katastrophen. Ohne sie gäbe es keine „Ilias“, keinen zornigen Achill, der vor Troja im Feldlager schmollt, weil sich Agamemnon so viel herausnimmt. Der Griechenführer, der Achill die Sklavin Briseis weggenommen hat, ist für den Beraubten ein „anaidés“, es fehlt ihm an „aidós“, an Scham.

Hat die griechische Regierung an Homer gedacht, als sie beschloss, Steuersünder auf einer „Liste der Schande“ zu veröffentlichen? Oder an Hesiod? Sein Zeitalter habe „Scham und Recht“ verloren, klagte der Dichter im 8. Jahrhundert vor Christus. Schon er hatte erkannt, dass das Recht in einem Gefühl wurzelt: der Scham. Wo sie fehlt, muss man sie erzwingen. Mancherorts im alten Griechenland wurden Schuldner, die nicht zahlten, mit einem Korb über dem Kopf auf der Agora ausgestellt.

Heute sollen sie zwar nicht ihren Kopf hinhalten, nur ihren Namen – das aber im Netz und damit vor der ganzen Welt.
Als „Internet Shaming“ erlebt die Welt die gigantische Renaissance einer überwunden geglaubten Strafform: des Prangers. In Tschechien stellen Behörden zwecks Prostitutionsbekämpfung die Fotos von Freiern ins Internet, ein US-Bundesstaat veröffentlicht Listen jener Bürger, die mit der Zahlung ihrer Steuer im Rückstand sind, in ganz Amerika werden Name, Adresse und Foto ehemaliger Sexualstraftäter ins Netz gestellt, und Schweizer Behörden veröffentlichen Aufnahmen mutmaßlicher Hooligans. Viel verbreiteter noch ist die private und kommerzielle Bloßstellung. Auf „rottenneighbours.com“ werden unliebsame Nachbarn denunziert, auf „onlinerache.de“ wird verleumdet, die Seite „Don't date him Girl“ outet untreue Männer. Eine „Liste der Schande“ hat im Jänner auch die Hackergruppe Anonymous online gestellt – mit den privaten Daten aller Kunden eines rechtsextremen Versandhauses.

Trinkertonne für Wirtshaushocker

Schandstrafen wurden schon lang vor Christi Geburt praktiziert, in Asien auf erstaunlich ähnliche Weise wie in Europa. Ihr Inbegriff ist im deutschsprachigen Raum der mittelalterliche Pranger – eine Säule, ein Pfosten oder eine Plattform, an der die Opfer gefesselt dem Spott der Mitmenschen ausgesetzt wurden. „Am Pranger“ hieß denn auch eine Rubrik im Nazi-Propagandablatt „Der Stürmer“, in der Frauen, die mit „Nicht-Ariern“ sexuell verkehrten, genannt und abgebildet waren. Ein französisches Pendant des „Stürmers“ trug sogar den Titel „Au Pilori“, „Am Pranger“. Das Mittelalter kannte allerdings noch viele weitere Schandwerkzeuge – wie die Trinkertonne für notorische Wirtshaushocker, die Doppelhalsgeige für zankende Frauen oder das Tauchgestell für Bäcker, die zu kleines Brot buken.

Schandstrafen sind billig, denn man braucht kein Gefängnis; sie gelten als effizientes Mittel sozialer Kontrolle, weil die Scham den Menschen im Innersten trifft; sie stärken den Zusammenhalt der „Braven“. Aber Schandstrafen haben einen Schönheitsfehler: Sie operieren mit niederen Instinkten – Schadenfreude, Spott, Sadismus. Und der Mob ist unberechenbar. Er konnte überreagieren – dann waren die Angeprangerten am Ende tot. Umgekehrt war es bei Daniel Defoe; der Autor von „Robinson Crusoe“ musste wegen einer Satire auf die englische Staatskirche am Pranger stehen, angeblich warfen die Menschen statt der üblichen ekligen und schmerzhaften Wurfgeschosse Blumen und tranken auf sein Wohl.

Im 19. Jahrhundert starb die Schandstrafe in Europa und Amerika aus, nur im US-Staat Delaware wurde sie vereinzelt bis 1952 praktiziert. Seit den 1990er-Jahren ist sie in den USA wieder beliebter. Da muss etwa ein Mann als Huhn verkleidet spazieren gehen, weil er sich unsittlich verhalten hat. „Creative sentencing“, „kreative Bestrafung“ nennt man solche Praktiken. Die wissenschaftliche Basis dafür hat der australische Kriminologe John Braithwaite 1989 mit seinem Konzept des „Reintegrative Shaming“ geliefert. Er unterschied dabei zwischen einem schlechten, stigmatisierenden Beschämen, und einem hilfreichen, reintegrierenden.
Aber wie die beiden unterscheiden, zumal die Dosis der Beschämung nicht kontrollierbar ist? Durch Boulevardmedien und Internet nehmen lokale Vorfälle riesige Dimensionen an. Eine junge Koreanerin wurde als „Dog-Shit-Girl“ Opfer einer regelrechten Hetzjagd im Internet, nachdem ihr Hund sich in der U-Bahn entleert hatte und ein Augenzeuge ein Handyfoto der Szene ins Netz gestellt hatte. Eine Frau, die 2009 in einer Wal-Mart-Filiale liegen gebliebene Gutscheine einsteckte, wurde verurteilt, mit umgehängtem „Ich bin eine Diebin“-Schild ein paar Stunden vor dem Geschäft zu stehen – im Netz ist sie immer noch so zu sehen, für jeden auf der Welt.

Ewig am digitalen Pranger

Davon ahnte der englische Philosoph Jeremy Bentham noch nichts, als er im 18. Jahrhundert Schandstrafen als Mittel der Besserung pries. Der Aufklärer fand die öffentliche Meinung „gar nicht unerbittlich“, denn „man vergisst und verzeiht leicht, was nur nicht wiederholt wird“. Außerdem beschränke sich die öffentliche Meinung auf einen kleinen Kreis, dem man notfalls entfliehen könne. Dem ist nicht mehr so: Der digitale Pranger kennt kein Entkommen.

Dabei ist die menschliche Fähigkeit, sich zu schämen (weil man gegen Normen einer Gemeinschaft verstößt, mit denen man sich identifiziert), eine wunderbare Sache. Entwicklungspsychologen preisen sie als wichtigen Schritt in der kindlichen Entwicklung, Anthropologen bewundern ihre Rolle als soziales Regulativ in allen Kulturen, und auch die Spieltheorie hat gezeigt, dass soziale Strafen dem Gemeinwohl guttun. Tagtäglich bringt uns die Scham auf subtile Weise dazu, uns normkonform zu verhalten. Aber auf die Dosis kommt es an. Ist sie zu groß, sagen Psychologen, schlägt die Wirkung ins Gegenteil um. Der oder die Beschämte zieht sich zurück, verweigert die Verantwortung für das, was er getan hat, sieht sich als Opfer und versucht, die Erniedrigung weiterzugeben.
„Internet Shaming“ könne in einer immer rüderen Welt helfen, den Anstand aufrechtzuerhalten, schrieb der US-Rechtsprofessor Daniel Solove in seinem Buch „The Future of Reputation“. Die Menschen müssten sich nur verantwortungsvoll verhalten und Denunziation meiden.

Seine Argumentation hat einen Haken: Ein Mittel, das einer brutalen Gesellschaft zu mehr Anstand verhelfen soll, kann nicht funktionieren, wenn seine richtige Anwendung genau diesen Anstand voraussetzt. Zumal dann, wenn stimmt, was die deutsche Schriftstellerin Juli Zeh in ihrem Roman „Corpus Delicti“ schreibt: „Das Mittelalter ist keine Epoche, sondern der Name der menschlichen Natur.“

Auf einen Blick

Der Pranger. Der Schandpfahl war ab dem 13. Jahrhundert zur Vollstreckung von Ehrenstrafen weitverbreitet. Der Verurteilte wurde an ihn gefesselt und öffentlich vorgeführt.
Internet Shaming. Neueste Variante des Prangers, ähnlich dem Cyber-Mobbing. Online werden Menschen bloßgestellt. Dieser Datenmissbrauch nimmt rasant zu. Jeder dritte Nutzer war laut Studie 2011 betroffen.

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