Ideen gemeinsam mit dem Rest der Welt entwickeln

Ideen gemeinsam Rest Welt
Ideen gemeinsam Rest Welt(c) Die Presse (Clemens Fabry)
  • Drucken

In Wien fand vergangenes Wochenende ein Ableger des Global Service Jam statt. Mehr als 2000 Menschen aus fast 40 Ländern haben dafür gemeinsam an der Umsetzung von Service-Design-Ideen gearbeitet.

Was meint ihr? Wer darf bei unserer Plattform mitmachen?“, fragt die Studentin Lisa ihre Kollegen und blickt erwartungsvoll in die Runde. Kurzes Schweigen, dann bricht eine heftige Diskussion los. Rohini Deepthi Natti aus Indien hat derweil ganz andere Probleme: Sie postet Fotos von Essensresten und einem unaufgeräumten Schreibtisch im Netz. Wie soll sie in diesem Chaos jemals zu einer Lösung kommen?!

Die Wienerin Lisa Langmantel und die Inderin Rohini Deepthi Natti befinden sich mehrere tausend Kilometer voneinander entfernt, trotzdem nehmen sie an der gleichen Veranstaltung teil: dem „Global Service Jam 2012“, der heuer zum ersten Mal unter dem Namen „Vienna Service Design Jam“ auch in Wien stattfindet. 2061 Menschen aus 85 Städten in fast 40 Ländern haben sich dafür zusammengeschlossen und versuchen, zeitgleich innerhalb von 48 Stunden eine neue Dienstleistung zu entwickeln: benutzerfreundlich, intelligent, einfach in der Bedienung, noch nie da gewesen.

Hilfe bekommen sie dabei von den anderen Teams vor Ort, aber auch von den Kollegen in anderen Ländern, die dank Social-Media-Plattformen wie Facebook, Twitter oder Flickr zugeschaltet sind: Da redet ein Ire mit einem Amerikaner über Formen oder ein Inder mit einem Chinesen über interkulturelles Design.

Die Idee für den Global Service Jam hatten ein Deutscher und ein Brite vor einem Jahr, aber schon jetzt hat sich das Event zu einem beliebten Termin für Kreative entwickelt. Die Lust am Gestalten treibt sie hin: „Der größte Benefit sind der Spaß und die Tatsache, dass man neue Leute kennenlernt“, wird Organisator Christoph Oberlechner später erklären. Das Thema des Jams ist geheim und wird am ersten Tag per Video bekannt gegeben. In diesem Jahr lautet es „Hidden Treasures“ – sofort herrscht große Aufregung in den Räumen der Wiener Agentur GP Designpartners im siebten Bezirk, in denen das Event stattfindet.

Mehr Leute, mehr Ideen. „Ich finde das Wissen, dass die ganze Welt an einer Idee arbeitet, irrsinnig inspirierend“, sagt die Wienerin Lisa, während sie versucht ein paar Fotos ihrer Gruppe – fünf Leute, die sie erst am Vortag kennengelernt hat – auf die Jam-Homepage zu laden. Neben ihr tummeln sich noch 19 andere Kreative in dem fast 200 Quadratmeter großen Raum, der voll mit Plakaten ist und durch den sich verschiedene Sitzgruppen zum Arbeiten ziehen. Seit dem Vorabend versuchen alle Anwesenden, den Begriff „Hidden Treasures“ in ein reales Projekt umzusetzen. Vorgaben gibt es keine: Jeder kann machen, was und wie er es will. „Und sind die richtige Leute beisammen, dann schafft man in zwei Tagen Projekte, die woanders sonst zwei Monate gedauert hätten“, sagt Lisa.

Die 24-Jährige studiert eigentlich Designmanagement in Deutschland. Zum Jam hat sie die Neugierde getrieben: „Eine Freundin hat mir davon erzählt. Und die Stimmung hier ist super, weil man einfach keine Angst haben muss, wenn man etwas vorschlägt.“ Für sie ist auch der Netzwerkcharakter wichtig: „Ich bin ja bald mit dem Studium fertig.“ Auch Teilnehmer Rainer Kargel ist von der kreativen Stimmung begeistert: „Wenn die richtigen Leute zusammentreffen, dann lassen sich Dinge entwickeln, die sonst nicht möglich wären“, sagt der 39-jährige Werber, der in Linz eine Agentur besitzt.

Sätze wie diese hört Christoph Oberlechner natürlich gern. Der gebürtige Südtiroler hat den Vienna Service Design Jam nach Wien gebracht. „Wir hatten schon früher die Idee, aber davor ist es sich nicht ausgegangen“, erzählt er. Oberlechner ist der Prototyp eines städtischen Kreativen: stylische Lockenfrisur, lange Beine in engen Röhrenjeans und Sneakers mit roter Sohle, in denen er beweist, wie unkonventionell er ist. Regelmäßig steigt er auf die weiße Oberfläche der Schreibtische im Raum, um ja nicht herumgehen zu müssen. Umso begeisterter ist er jetzt von der Stimmung im Raum: „Die Leute kommen in der Früh und arbeiten ohne Pause durch. Die sind total im Flow.“

Tatsächlich ist die Arbeitswut im Raum nicht zu übersehen. Niemand muss hier zu irgendetwas motiviert werden, konzentriert sitzen alle vier Gruppen beisammen; sie brainstormen, kleben Post-its, zeichnen und recherchieren auf den mitgebrachten Computern.

Vor allem in der Fünfergruppe neben der Kaffeemaschine geht es laut zu: „Was heißt jetzt ,customize‘ für unser Produkt?“, fragt eine rothaarige Frau. „Können wir das später besprechen?“, mault ihr Kollege. Gemeinsam versuchen sie, einen Businessplan für ihre Website, eine Online-Plattform, auf der man seinen Familienstammbaum archivieren kann, zu entwickeln.

Lisas und Rainers Gruppe beschäftigt sich derweil mit Plätzen, in denen man ein paar Stunden zwecks Inspiration verbringen kann. „Ikea könnte seine Verkaufsflächen zur Verfügung stellen und Privatpersonen ihre Arbeitsplätze“, schlägt Lisas Teamkollegin Gerda Rosenberger, Sportmanagerin aus Wien, vor. Bevor die Online-Plattform konkrete Formen annimmt, muss aber erst ein Name gefunden werden: „TWR, Plattform, Blubbles“, überlegt Lisa laut. „Kannst du bitte leise denken?“, wird sie prompt von einer Teamkollegin zurechtgewiesen. Wer glaubt, dass der Tag ohne Scharmützel verläuft, der irrt. Immer wieder sind Spannungen im Raum zu spüren. Der eine ist zu laut, der andere zu leise, manche gehen zu strategisch vor, anderen zu sehr aus dem Bauch heraus.

Die Begeisterung für den Jam können die Uneinigkeiten trotzdem nicht stoppen: „Es ist einfach toll hier. Weil die Leute aus den unterschiedlichsten Disziplinen kommen, wird man hier immer auf neue Ideen gebracht. In Unternehmen ist diese Leichtigkeit ja schon längst verloren gegangen“, sagt Rainer Kargel.

Auch die Sozialarbeiterin hilft. Tatsächlich sind nur knapp die Hälfte der Leute auch tatsächlich Designer – der Rest kommt aus der Werbebranche, aus der Psychologie, und sogar zwei Sozialarbeiterinnen sind unter den Teilnehmern. Oberlechner findet das gut so: „Jeder kann seinen Teil dazu beitragen. Und andere Disziplinen bringen andere Sichtweisen hinein.“ Das haben auch die Teilnehmer gewusst: Bis zuletzt hätten sich Leute aus den unterschiedlichsten Branchen für das Event gemeldet. Trotz der knapp 60 Euro Unkostenbeitrag, der aber Verpflegung inkludiert.

Lisas Gruppe setzt jedenfalls ganz auf Internationalität. Ein Kollege hat eine Frage auf die Facebook-Seite des Jams gepostet: „Welche Orte sind inspirierend für euch?“ Prompt kommt die Antwort: Istanbul, Griechenland, schreiben ein paar Kreative am anderen Ende der Welt zurück. „Aha“, sagt Lisa, „vielleicht sollten wir doch auf internationale Plätze ausweiten.“

Die Gruppe nebenan ist da schon weiter: Sie baut schon einen Prototyp ihrer „Life in a Box“-Idee, mit der man sich das Leben einer anderen Person ausborgen kann. Großer Applaus bei der Präsentation. Welche Idee Lisa am besten gefallen hat? Natürlich die eigene, aber irgendwie waren alle großartig. Auch wenn die Projekte natürlich im ersten Moment keine langfristige Umsetzung finden: „Was daraus wird, das bleibt offen. Aber es geht ja eher darum, dass man weltweit etwas bewegt, dass man sieht, was für einen Output die Leute haben“, sagt Oberlechner. Ob ein Projekt jemals einen Investor finden wird, weiß noch keiner.

Das ist vordergründig auch gar nicht das Wichtigste. Am Ende des Jams sind 350 teilweise recht gut entwickelte Serviceideen auf der Homepage des Jams zu finden. „Es ist so interessant zu sehen, was da rausgekommen ist“, sagt Lisa. „Die Leute in Asien haben ja etwas ganz anderes daraus gemacht als die in Russland.“ Schon allein das Wissen, bei dem Event teilgenommen zu haben, macht sie stolz. Ob sie nächstes Jahr wieder dabei ist? Was für eine Frage: auf jeden Fall.

Kreative Vernetzung

Der „Global Design Jam“ fand von 24.–26. Februar statt. Laut Veranstalter nahmen daran 2061 Jammers in 85 Städten in 40 Ländern auf der ganzen Welt teil. Viele davon aus Europa und Amerika, aber auch einige aus Indien, China oder dem Nahen Osten.

350 Projekte und Serviceideen wurden so von den Teilnehmern geschaffen. Auf www.globalservicejam.org sind sie alle abrufbar. In Österreich hat die Agentur GP Designpartners den Jam beherbergt. Rund 20 Frauen und Männer haben vier Projekte gemeinsam entwickelt.

Der nächste Jam ist der „Global Sustainability Jam“. Er findet im Oktober 2012 statt. Der Name ist Programm: „48 Stunden, um die Welt zu retten“ – natürlich mit neuen Designideen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.03.2012)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.