Marathon – eine »Reise ins Ich« und wieder retour Eine Menschenschlange im Großstadtdschungel

Wien ist am kommenden Sonntag wieder auf den Beinen, der Vienna City Marathon zieht 36.000 Läufer und zigtausende Zuschauer in seinen Bann. Während alles seinen Lauf nimmt, nimmt auch schrittweise die Nervosität von Veranstalter Wolfgang Konrad zu.

Wolfgang Konrad ist aufgeregt. Es ist die gewohnte Nervosität, die den Veranstalter des Vienna City Marathons jedes Jahr um diese Zeit seit 1989 begleitet. Die letzten Vorbereitungen für das Laufereignis verlangen Einsatz, und in gewisser Weise bestreitet der 53-Jährige täglich einen Marathon. Statt Kilometern auf der Rennstrecke spult der ehemalige Mittelstreckenläufer seine Distanzen zwischen Meetings, Telefonaten und Begehungen ab. Sein Rennen, sagt Konrad, habe sich seit seinem ersten Zutun 1989 „gewaltig verändert“. Aus einem schlichten Lauf sei eine „Inszenierung“ geworden, sagt er plakativ, und angesichts der Tatsache, dass am kommenden Sonntag 36.000 Starter erwartet werden, ist man kurzerhand geneigt, ihm diese Dramaturgie auch zu glauben.

In Zeiten, in denen Jugendliche Laufen als „uncool“ einstufen und Trendsportarten oder Computerspielen den Vorzug geben, sieht sich Konrad besonders gefordert. Wie bringt man Österreichern Freude am Laufsport bei? Was muss er tun, damit seine 42,195 Kilometer für Aufmerksamkeit sorgen und nicht nur als Ärgernis für Autofahrer gelten? Antworten hätte Konrad, der aus einer Juristen-Familie kommt, viele parat. Nur ob sie auch von der Masse verstanden werden, bleibt offen. Fakt aber ist: Am 15.April ist Wien wieder auf den Beinen.

Dicht gesäumte Straßen sind ebenso gewiss wie atemberaubende Bilder einer Menschenschlange, die sich über die Reichsbrücke schlängelt und in den Straßen der Stadt verstreut. „Ein Marathon ist eine Reise“, sagt Konrad und spricht von Überwindung, Schmerz, dem Bewältigen von Krisen. Apnoe-Tauchen oder der Sprung aus 36.000 Metern Höhe seien nur schwer begreifbare Erlebnisse einzelner Protagonisten, ein Marathon aber die „Challenge des kleinen Mannes“. Man brauche nicht viel Geld – nur die Investition in profundes Schuhwerk ist empfehlenswert –, sondern Willen und Ausdauer. Und jeder, der es ins Ziel schafft, sei ein Gewinner. Die Zeit, sagt Konrad, spiele für die breite Masse letztlich eine untergeordnete Rolle.


Immer wieder der Mythos. „Es ist eine Reise ins Ich. Du erreichst irgendwann, nach Kilometer X, eine Leere. Du läufst in dieses Tief hinein – aber auch wieder hinaus. Für mich ist das der Mythos eines Marathons“, sagt der Tiroler, der schon in den 1980er-Jahren als Hindernisläufer aufhorchen ließ und sich auch in der Gegenwart jedem Kritiker und Widersacher stellt. Konrad mag mit seinen Argumenten ein streitbarer Charakter sein. Auch ist nicht jeder ein Leichtathletik-Fan oder von seinem Wunsch, dass in der Bevölkerung mehr Bewegung stattfinden müsse, vollends überzeugt. Doch Erfolg und steigende Teilnehmerzahlen geben ihm recht.

Freilich, der Vienna City Marathon ist ein „Einmal-Erlebnis“, würde er öfter als nur einmal pro Jahr stattfinden, wäre er schnell inflationär. Aber auch in New York, Boston, London, Berlin oder Amsterdam werden nur einmal im Jahr die Straßen für die Läufer geräumt. Dass Wien nie die Dimensionen des „Big Apples“ erreichen wird, ist Konrad bewusst und in Wahrheit auch nur recht. Es sei trotz des Aufwandes mit Motorrädern, Streckenposten, Zeitnehmung, Streckenabsperrung etc. ein „überschaubares Event“ geblieben.

Dennoch, und das steht im Widerspruch zur Wahrnehmung der Lokalpolitik, genießt dieses Rennen internationales Ansehen. Nicht nur, weil zigtausende Touristen kommen und Nächtigungszahlen in die Höhe schnellen, sondern auch, weil Weltstars in Wien laufen. Natürlich bekommen Aushängeschilder wie Haile Gebrselassie oder Paula Radcliffe Startgelder, das ist Usus. „Aber Stars dieses Formats kannst du mit Geld nicht locken“, sagt Konrad, „die kommen, weil sie dich kennen, es in den Kalender passt und sie sich hier bei uns wohl fühlen.“

Der Äthiopier und die Britin sind tatsächlich die populärsten Namen auf dem Marathon-Sektor. Womöglich ist der Kenianer Patrick Makau geläufig, er stellte immerhin 2011 in Berlin einen neuen Weltrekord in 2:03,38 Stunden auf. Auch Günther Weidlinger ist vielen ein Begriff, er hält seit 2009 immerhin den österreichischen Rekord in 2:10,47 Stunden. Danach aber verhält es sich bei der Suche nach klingenden Namen genauso wie bei der Frage nach österreichischen Talenten – es fällt einem niemand ein.

Die Hoffnung auf einen neuen Lokalmatador wird Wolfgang Konrad nie aufgeben. Der ist aber noch lange nicht in Sicht, sein Rennen läuft währenddessen trotzdem munter weiter. Nicht jedes Schauspiel lebt nur von einem Protagonisten.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.04.2012)

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