Deutschland: Bugstrahlruder, Biberbauten und Bojenslalom

(c) dpa-Zentralbild/Stefan Sauer
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Das „blaue Paradies“ Mecklenburg-Vorpommern und Nord-Brandenburg hat noch jeden mit der „Sehkrankheit“ infiziert. Besonders auf einem Hausboot riskiert man visuelle Flutwellen.

Auf den spärlich besiedelten Landstrichen von Meck-Pomm und Brandenburg Nord brüten vermutlich mehr Eisvögel als Einwohner. Dafür wird man von den visuellen Reizen dieser Kultur- und Naturlandschaft überschwemmt.

Vor über 2000 Binnenseen, 26.000 km Fließgewässern, Schwarzstörchen, Kormoranen, Muffelwild, Bibern, Fischadlern und Hundertschaften an Schlössern, Burgen und Herrenhäuser kann niemand die Augen verschließen. Nicht einmal, wenn er gerade blindwütig mit dem Bugstrahlruder kämpft. Oder kopflos nach verschollenen Fendern fischt. Was einem Hausboot-Neuling durchaus passieren kann. Eine Fahrt mit dem Wasserwohnmobil durchs blaue Paradies stellt nämlich nicht nur das Auge, sondern auch die Feinmotorik vor ungeahnte Herausforderungen.

Zwar gibt's vor dem Loslegen eine umfassende Einführung. Aber zwischen Theorie und Praxis erstreckt sich die Müritz, der mit über 110 Quadratkilometern größte Binnensee Deutschlands. Im Hafen der Marina Wolfsbruch sind Wässer wie Besatzung noch gleichermaßen unaufgeregt. Also, Schiff ahoi und Leinen los. Die erste Kurve wird wagemutig gekratzt, dann geht's vorschriftsmäßig entschleunigt auf der von veritablen Urwäldern gesäumten Wasserstraße dahin.

Seensucht macht sich breit

Die Haubentaucher tauchen, die Fischadler fischen und die Seefahrer sehen begeistert dabei zu. Flankiert von rüstigen Rentnern im Kajak und schnatternden Entenscharen beim Familienausschwimm tuckert man mit exakt 1800 Touren durch endlose Auen. Bis die erste Schleuse am Horizont erscheint. Die Ampel zeigt Rot, drei Boote und ein Lastkahn wiegen sich wartend auf den Wellen. Da ein Hausboot kein Flügelboot ist, sind nun Geduld und ein erstes Anlegemanöver gefragt. „Legen Sie parallel zur Fahrtrichtung und möglichst auf der Windseite an,“ belehrt das Handbuch.

Also Tempo drosseln, beidrehen – und schon positioniert sich der Bug perfekt am Gestade. Nur noch das Heck ein wenig nach Backbord und es wäre vollbracht. Retourgang rein, ganze Kraft voraus, oder besser zurück – und wir blockieren mit voller Breitseite. Kapitän wie Boot manövrieren sich zielgenau ins Sumpfseggenröhricht, die Uferschwalben ergreifen lautstark die Flucht. Immerhin ragt so ein schipperndes Urlaubsheim mit bis zu 15 Meter Länge in die Landschaft. Komfort braucht eben seinen Platz.

Nach einer kleinen Kollision mit den Hintermännern und heftigen Gestikulationen vom Deck der Vordermänner schreitet der Schleusenwärter ein. „Ja, haben Sie denn keinen Bugstrahlruderknopf?“ Natürlich haben wir einen, keine Frage – aber wer drückt im früheren Osten schon gerne auf den roten Knopf. Statt kaltem Krieg bricht aber nur der kalte Schweiß aus. Und das Heck lenkt gefügig ein. Wie sangen schon Plattfööt zur Wendezeit: „De Tied bliwt nich stahn – de Wind hett sick dreiht.“ Und wahr isses. Wobei sich der Wind erst auf dem Weg zum Müritzsee, irgendwo nach Mirow und seiner lauschigen Liebesinsel, spürbar in Richtung Abenteuerluft dreht.

Wellen auf dem „kleinen Meer“

Die bislang landrattensichere Navigation – grüne Bojen links, rote Bojen rechts – gerät im wahrsten Sinn des Wortes ins Schwanken. Die Karte gleicht zunehmend einem Strickmusterbogen, die Orientierung nimmt ab, der Wellengang zu. Nicht umsonst bedeutet „Müritz“ (slawisch „Morcze“) kleines Meer. Zwar bringt einen die kryptische Betonnung, die Markierung der Spurrinnen, immer wieder vom rechten Weg ab, aber die Aussicht lohnt Irrungen wie Wirrungen. Auf den Landzungen – der Müritz-Nationalpark ist riesig, 318 Quadratkilometer groß – weiden Fjällrinder und Gotlandschafe, am Wasser verbreiten die bunten Bootshäuser von Röbel skandinavisches Flair, und an der Küste versetzt einen das Hotel Schloss Klink an die Loire.

Doch bevor man dem kleinmaritimen Stendhal-Syndrom erliegt, kommt ein rettender Hafen in Sicht. Röbel etwa, einer dieser städtischen Winzlinge von Meck-Pomm, gleicht, wie die meisten Siedelungen rund um die Seenplatte, einer authentischen Antithese zur modernen Tourismusindustrie. Statt hektischer Fast-Food-Läden dominieren heimelige Räucherfischbuden die ansässige Kulinarik, statt betriebsamer Marktschreierei herrscht eine beschauliche Biedermeierlichkeit vor, statt armseliger Allerweltsarchitektur buhlen aufwendig verzierte Fachwerkbauten um die Aufmerksamkeit des Besuchers.

Sogar eine alte Synagoge gibt es hier. Und wer vor lauter Sehenswürdigkeiten den synaptischen Kollaps riskiert, stärkt sich am besten bei einem Lübzer Pils mit Tüften (Kartoffeln), Pommer'schem Kaviar und gebackenem Spickaal. Denn in diesen Bollwerken bodenständiger Betulichkeit bringen noch genügend Fischers Fritzen frischen Fisch an den Strandpromenadentisch.

Schirm, Charme und Fontane

1989 fiel die Mauer zwischen Ost- und Westdeutschland, doch mancherorts besteht sie fort. In meinem Kopf zum Beispiel. Im Spiel der mittlerweilen freien Assoziationen etwa rangierte Nord-Brandenburg in der Kategorie: durch kommunistische Plattenbaufurunkel verunstaltetes, klimatisch bedenkliches Braunkohlegroßkombinat. Doch wer einmal durch diese zu Unrecht vergessenen Landstriche wie Ostprignitz-Ruppin oder die Ruppiner Schweiz gereist ist, wird seinen Ressentiments rasch abtrünnig werden und sich reumütig Braunkohleasche aufs Haupt streuen.

Denn die Aussichten, Einsichten und Ansichten rund um Rheinsberg oder Neuruppin bringen jedes Vorurteil restlos zum Einsturz. Nicht umsonst hat Theodor Fontane zwischen 1859 und 1889 dreißig Jahre lang seine Heimat bereist, um deren Schönheit, Kultur und Eleganz zu beschreiben. Die gesammelten Kostbarkeiten haben ursprünglich acht Bände voller „Wanderungen durch die Mark Brandenburg“ gefüllt.

Aber man muss ja nicht gleich die ganze Mark durchwandern. Schon bei einem Spaziergang durch Rheinsberg fällt auf, dass hier nicht nur die Menschen, sondern sogar Brücken, Bootsstege und Fassaden den anmutigen Charme einer verloren geglaubten Zeit verströmen. Alles wirkt wie eine impressionistische Ganzjahres-Sommerfrische, in der man vergeblich nach Spuren von industrieller oder friedlicher Revolution sucht. „Erst der glatte Wasserspiegel, an seinem Ufer ein Kranz von Schilf und Nymphäen (...), und endlich das Schloss selbst, die Fernsicht schließend.“ So beschrieb Fontane dieses großflächige Kleinod – Rheinsberg umfasst über 300 Quadratkilometer und 17 Ortsteile. Im Schloss Rheinsberg, einem Prunkbau in friderizianischen Rokoko, der nicht nur Kronprinz Friedrich als Wohnsitz, sondern auch Sanssouci als Vorbild diente, ist heute das Kurt-Tucholsky-Literaturmuseum untergebracht. Offenbar war selbst der sozialkritische Tucholsky der biederen Grazie dieses Städtchens erlegen, denn Rheinsberg diente seinem 1912 verfassten Bilderbuch für Verliebte als sentimentale Kulisse. Gegen den Lärm des täglichen Lebens ließ er seine Verliebten in dieser Oase der Stille Zuflucht finden. Eine auch heute noch gute Idee.

Backsteinalte Sakralbauten

Ebenso großflächig wie Rheinsberg ist Neuruppin in der Ruppiner Schweiz, die nach einem Brand in üppigem Residenzstil neu erbaute Heimatstadt Fontanes. Auch hier mangelt es nicht an der ortsüblichen nordbrandenburgischen Grundausstattung – prachtvolle Herrenhäuser, ein Dutzend backsteinalte Sakralbauten, historische Stadtmauern und ein idyllischer See samt Strandpromenade.

Nur das distinguierte Thermalhotel „Fontane“ stellt einen gelungenen Brückenschlag zur Moderne dar. Der Ausblick auf die gute alte Zeit am längsten See Brandenburgs harmoniert perfekt mit dem Einblick in futuristische Kuranstaltkonzepte. Seit Kurzem besitzt das Seehotel durch seine Solevorkommen sogar die erste zertifizierte Heilquelle Brandenburgs. Ein Ort, um sich, mit Fontanes Worten, „die Julisonne zu unseren Häupten, an der feuchten Kühle des Wassers zu laben“.

Im Blau des Paradieses

Hauboot-Charter: Le Boat, eine TUI-Tochter, hat 1000 Hausboote in 45 europäischen Häfen im Angebot. Infos und Buchungen in allen TUI-Reisebüros, bei den Hausbootspezialisten Hausboot Böckl, Wien und Terramarin, St. Pölten oder direkt bei Le Boat info@leboat.de www.leboat.de

Preisbeispiele Deutschland 2012 pro Boot/ Woche:
Typ Clipper, 4 Sterne, für 4+2 Personen, ab 251 Euro pro Person bei Maximalbelegung.
Typ Crusader, 3 Sterne, für 6 Personen, ab 266 Euro pro Person bei Maximalbelegung.
Typ Magnifique, 4 Sterne, für 8+2 Personen, ab 222 Euro pro Person bei Maximalbelegung.

Das „blaue Paradies“ (Gewässersystem von Berlin, Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern) ist größtenteils ohne Bootsführerschein befahrbar)

Tourismusverband Mecklenburg-Vorpommern e.V.

Platz der Freundschaft 1, 18059 Rostock, +49/(0)381/40 30-500 www.auf-nach-mv.de
www.das-blaue-paradies.de

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2012)

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