Seltsame Wendung im Fall Saif al-Islam Gaddafi

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Noch vor Kurzem hatte der Internationale Strafgerichtshof die Auslieferung von Dikatorensohn Gaddafi verlangt. Nun duldet man das Verfahren in Libyen.

Tripolis/Tahiche. Die Wände frisch gestrichen, neue Teppiche und Möbel. Draußen vor dem Eingang stehen Soldaten stramm in Reih und Glied. Stolz präsentierte die libysche Regierung den Gerichtssaal, in dem Saif al-Islam Gaddafi der Prozess gemacht werden soll. „Wir werden internationales Recht respektieren“, sagte Premier Abdel Rahim al-Kib, der die Örtlichkeiten in einer ehemaligen Militärakademie in Tripolis besichtigte. Die öffentliche Vorstellung der Gerichtsräume für den zweitältesten Gaddafi-Sohn erfolgte wenige Tage nach dem Auslieferungsgesuch des Internationalen Strafgerichtshofs (ICC) in Den Haag. Der ICC hatte der Regierung in Tripolis angeordnet, „den Haftbefehl zu vollstrecken“. Bereits im Juni 2011 hatte der ICC Saif al-Islam zur internationalen Fahndung ausgeschrieben, nachdem bekannt geworden war, dass der 39-Jährige für den Tod von Demonstranten verantwortlich gewesen sein soll.

„Die libyschen Behörden müssen sich auf eine Überstellung vorbereiten“, glaubt Richard Dicker von Human Rights Watch. Die Menschenrechtsorganisation hat – wie der ICC – große Zweifel daran, Gaddafi könne in Libyen einen fairen Prozess bekommen.

Ocampo: „Rechtssystem okay“

Mit dem Besuch von Luis Moreno-Ocampo in Libyen scheint jedoch eine Wendung bevorzustehen. Der ICC-Chefankläger zeigte sich von den juristischen Fortschritten in Libyen begeistert. „Letztes Jahr war das Rechtssystem ein Chaos“, sagte der 59-jährige Anwalt. „Heute ist es okay.“ Es bestehe die Möglichkeit, dass der ICC dem Wunsch Libyens nachkomme, dem Sohn des Ex-Diktators selbst den Prozess machen zu können. Wie der libysche Premierminister al-Kib versicherte, will man mit einem „absolut fairen“ Gerichtsverfahren das „wirkliche Image eines neuen Landes“ zeigen. Aber gerade daran haben Menschenrechtsorganisationen so ihre Zweifel. „Unter Gaddafi funktionierte das Rechtssystem aufgrund mangelnder Unabhängigkeit miserabel“, meint Fred Abrams von Human Rights Watch. „Und jetzt funktioniert es so gut wie gar nicht.“

Menschenrechtsorganisationenhaben systematische Misshandlungen, Folterungen und Tötungen von Gefangenen im Libyen der Post-Gaddafi-Ära dokumentiert. Milizen machen, was sie wollen, Städte sprechen nach Gutdünken Recht. Von Rechtssicherheit kann in Libyen nicht die Rede sein.

Der in Gefangenschaft sitzende Gaddafi-Sohn Saif al-Islam ist ein gutes Beispiel dafür. Seit seiner Verhaftung am 19. November wird er von den Milizen aus Zintan inhaftiert. „Nur bei uns ist er sicher“, behauptet Militärkommandeur Abubaker Emhamed. Er könnte befreit oder auch ermordet werden.“

Emhamed ist einer der mächtigsten Männer Libyens; er befehligt die 60 Milizen der Stadt und damit mehr als 10.000 Mann. Die Zintan-Brigaden kontrollieren Ölförderanlagen und den internationalen Flughafen von Tripolis.

Gaddafi als Cashcow

Die libysche Übergangsregierung kann dem Militärchef von Zintan nichts befehlen. Deshalb muss sie über die Auslieferung des prominenten Gefangenen verhandeln. Vor einer Woche war die „unmittelbar bevorstehende Überstellung“ al-Islams nach Tripolis von der Regierung angekündigt worden. Aber anscheinend konnte man sich über den finanziellen Ausgleich dafür nicht einigen. Gaddafi jedenfalls kann keine Anwaltsbesuche empfangen, die ihm als Gefangenen zustünden. Die medizinische Versorgung ist schlecht, und Misshandlungen stehen im Raum, wie zwei ICC-Vertreter bei einem der seltenen Besuche feststellen mussten.

Als der libysche Staatsanwalt für fünf Minuten den Raum verließ, „wirkte al-Islam plötzlich angespannt, winkte mit der Hand, an der zwei Finger fehlten, und deutete auf eine Zahnlücke, ohne ein Wort zu sagen.“ Für Moreno-Ocampo, den Chefankläger aus Den Haag, kein Grund zur Beunruhigung. Mehrere Regierungsvertreter, darunter Präsident Mustafa Abdul-Jalil, hätten ihm versichert: „Al-Islam ist in guter Verfassung.“

Auf einen Blick

Saif al-Islam al-Gaddafi, Sohn des früheren Diktators Muammar al-Gaddafi, soll offenbar in Tripolis vor Gericht gestellt werden. Zuvor hatte der Internationale Strafgerichtshof mit Sitz in Den Haag angezweifelt, ob Saif al-Islam in Libyen mit einem fairen Prozess rechnen kann. Diese Zweifel sind nach einem Besuch des aus Argentinien stammenden Chefanklägers José Luis Moreno-Ocampo offenbar ausgeräumt. [Reuters]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 21.04.2012)

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