Adieu, schöne Stadt: Das Ende des Schönheitsideals

Adieu schoene Stadt Ende
Adieu schoene Stadt Ende(c) APA (GEORG HOCHMUTH)
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Ästhetische Nachhaltigkeit wird in Wien noch weitgehend ignoriert. Bald könnten schon mehr ungeliebte Bauwerke in der Stadt herumstehen als solche, mit denen sich die Bewohner auch gerne identifizieren.

Impulse setzen in der Stadt, das nehmen sich die meisten Immobilienentwickler gerne großspurig in ihren Verkaufsfoldern vor. Und meistens gelingt das auch. Nur nicht so wie sich das Städte wünschen würden: Kollektives Kopfschütteln und Stirnrunzeln sind dann noch die harmlosesten Reflexe. „Am Hof“ in Wien reagieren derzeit die Gesichtsmuskeln von Laien und Experten recht ähnlich. Ganz oben, auf Nummer 11, sitzt der verantwortliche „Impuls“ dafür: ein Dachgeschoßausbau. Sein Urheber hat gleich selbstbewusst mit seinem Schriftzug signiert: Die Generali-Versicherung vertraut auf die Wirkung ihrer Immobilien. Und scheinbar auch auf ein Prinzip, das Umweltpsychologen „Mere Exposure“ nennen. Wenn es stimmt, werden die Wiener das Haus, wie es jetzt aussieht, auch irgendwann mögen. Allein durch den Umstand, dass es nun mal da ist. Und die Wiener regelmäßig an ihm vorbeigehen. Das ist der Trick: Vertrautheit macht attraktiver. Ein Prinzip, das mit Arbeitskollegen genauso gut funktioniert und schon mit dem Haas-Haus am Stephansplatz geklappt hat. Häuser und Menschen werden Freunde, wenn sie sie nur oft genug begegnen. Statt auf „ästhetische Stadtentwicklung“ scheint Wien auf Zeit, psychologische Gewöhnungseffekte, aber vor allem auf jene zu bauen, die de facto die effektiveren, doch rücksichtsloseren Stadtentwickler sind: die ganz privaten, kommerziellen Interessen.

Schönheit ist erblich. Auch deshalb sieht sich Wien gerne im Spiegel seiner Tourismusprospekte. Doch der reflektiert nicht alles, denn reicher wird das bauliche Erbe zurzeit nicht. Die Nachlassverwalter der Stadt von heute denken kaum an den Nachlass von morgen. Die Konsequenz: Mit der „Schönheit“ gehen auch andere – die emotionale Verbundenheit mit dem Ort. Und womöglich die Bewohner selbst.

Schließlich machen es die meisten Neubauten der letzten Jahre den Wienern nicht gerade einfach, sie zu lieben. Wie etwa der Büro-Shopping-Koloss von Wien Mitte, der im Herbst fertig sein soll. Da könnten auch 30 Jahre „Mere Exposure“ noch zu wenig sein. Für die Büro-Hotel-Zange, die den Westbahnhof in die Mangel nimmt, dürfte das auch nicht reichen. Genauso wenig für viele andere Gebäude, die in Zukunft ungeliebt und ungenutzt im städtebaulichen Eck stehen könnten. Ähnlich wie am eigenen Dachboden die Geschenke, die man bekommen hat, aber nie wollte.


Mehr Stephansdome. Architektur baut nicht nur Häuser zum Wohnen, Arbeiten, Angreifen und Ärgern. Sie konstruiert auch Abstraktes: Wie Atmosphäre, Wohlbefinden, Heimatgefühl und Ortsverbundenheit. Und das gelingt vor allem mit jenen Entwürfen, die gemeinhin als „schön“ empfunden werden. Rainer Maderthaner weiß das gut, als Umweltpsychologe hat er sich an der Universität Wien lange mit „psychologischer Ästhetik“ beschäftigt. Und auch mit der Frage: „Was ist schön in der Architektur?“ Mit Studien wurde der Mythos der subjektiven Schönheit und der „Geschmacksfrage“ entzaubert. Kein Grund für Städte, aufzuhören, die „ästhetische Stadtentwicklung“ konsequent zu ignorieren. Obwohl eine „schöne Stadt“ nicht nur für die Bewohner genügend Glücksgefühl übrig hätte: Auch für Investoren macht „schön“ attraktiv, die Renditen nämlich. Bescheidener sind die Bewohner, die sich zufrieden geben, mit Häusern, die gefallen, Plätzen zum Wohlfühlen und Straßen, über die man gerne schlendert. Was man liebt, pflegt man. Und wird vielleicht auch noch von den Erben der Erben genutzt. Roland Gnaiger von der Kunstuniversität Linz hat das „kulturelle Nachhaltigkeit“ genannt. Und den Stephansdom deshalb das „vielleicht nachhaltigste Gebäude Österreichs“.

Wien könnte durchaus mehr Stephansdome vertragen. Nicht nur, um Heimatgefühl und Identität zu betonieren. Sondern auch, die Orientierung auf dem mentalen Stadtplan zu erleichtern, der „Cognitive Map“: „In der Schönheitsbeurteilung ist die Lesbarkeit einer Landschaft ein wichtiger Punkt“, weiß Maderthaner. Doch nicht jede Stadt kann Rio de Janeiro sein oder auch virtuos das architektonische Kindchenschema à la Brügge beherrschen. Zu viel Zier – „zu viel visuelle Information“, wie Maderthaner sagt – kippt auch schnell wieder in den Kitsch. Dafür zieht bei Menschen instinktiv der urbane „Mystery“-Effekt ganz gut. Den beschreibt die Landschaftsforschung. Und was geheimnisvolle Wälder und Seen können, kann auch die gebaute Umwelt: locken und Spannung erzeugen. Mit der Aussicht auf positive Überraschungen und Besonderheiten, versteckt hinter dem nächsten Brückchen und Gässchen. Venedig weiß, wie das funktioniert. Genauso wie sogenannte „Ortsdramaturgen“, die versuchen, das Prinzip auf monotone Shopping-Center zu übertragen. Sie wären gern wie Städte. Städte wiederum wären lieber Paris als Pittsburgh. Und manche wären vielleicht sogar gerne Wien. Vor allem jene, die rekonstruieren müssen, was der Krieg und andere Katastrophen aus ihrer Stadt gebombt hat: das Gefühl einer vertrauten, gebauten Heimat. Deshalb zieht Frankfurt seine Altstadt wieder hoch. Deshalb will Berlin sein altes Stadtschloss zurück.

Operation Schönheit. Was schön ist in Wien, entscheiden nicht Bauherren und ihre Architekten. Schon gar nicht die MA 19 für Architektur und Stadtgestaltung. Sondern die Augen der Betrachter. Doch gerade diese Augen sehen die Dinge und ihre Schönheit viel ähnlicher, als viele Architekten unbeirrbar vermuten wollen.

Zwei Gruppen haben allerdings doch gänzlich unterschiedliche Wahrnehmungen von Architektur. Eine winzig kleine und eine riesengroße: „Zwischen Experten und Laien gibt es eine drastische Diskrepanz in der ästhetischen Wahrnehmung“, sagt Rainer Maderthaner. Die Experten sehen in Architektur historische Bezüge, für die Laien blind sind. Sie sehen „Stadttore“, „Brücken“ und andere Metaphern, wo nichts ist als bloße Häuser. Sie sehen „Schönheit“, wo die restlichen 3,2 Millionen Wiener Augen nichts erkennen können außer klotzige Monotonie. „80 Prozent der Schönheitsurteile von Architektur kann man vorhersagen“, berichtet Maderthaner von seinen Erfahrungen. Den Urteilen können auch Moden, Hypes und Lifestyles nichts anhaben. Komplizierter macht den Faktor „Schönheit“ allerdings, dass sie nicht nur vom Aussehen abhängt, wie Maderthaner erklärt. Sondern auch von der Nutzung der Gebäude. Oder etwa dem Wunsch, selbst darin wohnen zu wollen.


Geordnete Vielfalt. „Vielfalt in der architektonischen Gestaltung wird mit hoher Wahrscheinlichkeit als schön empfunden“, sagt Maderthaner. Wichtig sei dabei die Variationsbreite der Gestaltungselemente. Die Barockkirche hat somit gute Chancen beim urbanen Beauty-Contest. Eine Betonklotz-Kirchenskulptur wie die von Fritz Wotruba in Wien-Mauer dagegen weniger. Gerade das Merkmal „Vielfalt“ ignoriert moderne Architektur allzu gerne. Doch auch die Gestaltungsvielfalt allein macht noch nicht schön: Sie braucht ebenso Ordnung und Struktur. Das Hundertwasser-Haus habe davon zu wenig. Und polarisiere dementsprechend bei den Betrachtern, sagt Maderthaner.

In die Schönheitskonkurrenz startet moderne Architektur ohnehin mit Handicap: „Modern und schön korreliert negativ.“ Was auch daran liege, dass die Betrachter im Gebäude manchmal etwas ganz anderes sehen: Statt einer Konzernzentrale einen Bunker. Oder statt einer Wohnsiedlung ein Gefängnis. „Schuld an der schlechten Beurteilung sind oft die Assoziationen.“ Und die dazugehörigen negativen Gefühle, die die Betrachter aus ihren Erfahrungsschubladen ziehen. Besonders schwer haben es moderne Entwürfe in Ensembles neben alt eingesessen Nachbarn: „Moderne Fassaden werden alleine besser beurteilt als eingebettet in einer Reihe von Gründerzeitbauten“, meint Maderthaner. So füllen sich zwar Baulücken, doch die gestalterischen und emotionalen Leerstellen bleiben. Und das vor allem auf Nebenschauplätzen. Dort, wo die Wiener Heimatgefühle suchen, nicht Fotomotive. Noch dazu werden die kommerziellen Interessen zu höflich ins Dachgeschoß gebeten.

Von dort schauen die Architekturen protzig auf die Stadt herab, als ginge sie das Grätzel da unten gar nichts an. In jedem Fall: Das Schöne oder Hässliche nimmt in Wien denselben Weg – zunächst in die MA 19 zur architektonischen Begutachtung. 8000 bis 10.000 Projekte wollen jährlich genehmigt werden, berichtet Leiter Franz Kobermaier. Und betont: „Wir treffen natürlich keine Geschmacksentscheidungen.“ Auch der Dachausbau Am Hof lag irgendwann bei der MA 19 auf dem Tisch. Da musste schon der Fachbeirat anrücken. Ein interdisziplinäres Gremium – darunter Architekten, Stadtplaner und Sozialexperten – winkte den Entwurf wohlwollend hinauf in die luxuriöse Wiener Dachwüste. „Im Wesentlichen ist es ein sauberer Entwurf, der von den Proportionen und vom Formenkanon möglich ist“, erklärt Kobermaier. Andere kritisieren die freche Dominanz des Entwurfs. Der verantwortliche Architekt Gerd Mayr-Keber dagegen meint: „Im Grunde ist das ja eine brave Geschichte.“ Doch imposant genug, um aus dem ganzen Haus ein anderes zu machen. „Man kann es vergleichen mit einem Hut. Mit ihm wird das Gesamtbild auch ein anderes. Aber in Wien gibt es sicher aufdringlichere Hüte“, meint Mayr-Keber. Auf der Rückseite des Hauses – auch keine Spur von Zurückhaltung. Im engen Ledererhof ließ der Eigentümer – wie er selbst schreibt – „ein begehbares Kunstwerk“ über fünf Stockwerke wachsen. „5 Balconies“ heißt es, zugänglich ist nur der oberste. Ein „Zeichen für Kunst im öffentlichen Raum“– genau dort, wo er nicht viel größer ist als das Kunstwerk selbst.


Gut geschützt? Seit 1972 machen Schutzzonen in Wien den Hausabbruch komplizierter, Mitte der Neunzigerjahre wurde das Modell adaptiert und auf gründerzeitliche Bebauungen ausgeweitet, erzählt Kobermaier. Fast 60.000 Häuser wurden dazu inventarisiert, um die kulturhistorische Bedeutung überhaupt beurteilen zu können. „In der Schutzzone darf ohne Bewilligung nicht abgebrochen werden“, sagt Kobermaier. Wenn trotzdem plötzlich Baulücken klaffen, dann war meist „technische Abbruchreife“ oder „wirtschaftliche Abbruchreife“ im Spiel. „Dabei geht es um die wirtschaftliche Zumutbarkeit für den Hauseigentümer“, so Kobermaier. In den inneren Bezirken kaum ein Faktor, dazu seien die Renditen dort zu hoch. Außerdem: „Die Schutzzonen wirken sich positiv auf die Immobilienverwertung durch die Hausbesitzer aus, das zeigen Studien“. Und man muss die ästhetische Stadtentwicklung nicht dem „Mere Exposure“-Prinzip überlassen.

„Stadtidentität. Wie uns Städte glücklich machen“ – das versucht den Lesern dieses Buch zu sagen (erschienen im Jovis Verlag). Dazu gehören natürlich auch „ästhetische Nachhaltigkeit“ und „urbane Ästhetik“, wie etwa zwei Aufsätze in diesem Band darlegen.

„Die Schöne Stadt“ ist immer nachhaltig, sagt Klaus Theo Brenner. In seinem gleichnamigen Buch (ebenfalls Verlag Jovis) versucht er zu zeigen, unter welchen Kriterien eine qualitätvolle, zeitgenössische Stadtarchitektur möglich werden könnte.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 27.05.2012)

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