Herbstbräuche: Einmal im Jahr sind die Toten auf Besuch

Einmal Jahr sind Toten
Einmal Jahr sind Toten(c) AP (Marc Evan)
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Rituale geben Halt und Sicherheit, gerade im Herbst, wenn die welkende Natur an den Tod erinnert. Eine kleine Weltreise zu Herbstbräuchen und Feiertagen von England über Taiwan bis Israel.

Jeden Oktober versammeln sich die Menschen in den Dörfern von East Sussex zu einem seltsamen Schauspiel: Gekleidet in gestreifte Kostüme, schwenken sie Fackeln und schleppen riesige Ölfässer voll heißer Kohlen durch die Straßen. Kreuze werden verbrannt und Puppen, die den Papst darstellen sollen, gehen in Flammen auf. Ein gigantisches Feuerwerk erleuchtet den Himmel. Dann zünden die Dorfbewohner ein riesiges Feuer an, zwei oder drei Stockwerke hoch, Männer schlagen zum Tanz die Trommeln.

Anfang Oktober beginnen in Großbritannien die „Bonfire Nights“, ihren Höhepunkt finden sie am 5. November. Man zelebriert die Vereitelung eines Attentats auf den protestantischen König Jakob I. – geplant vom Katholiken Guy Fawkes für den 5. November 1605. Besonders üppig feiert man in East Sussex, dort ist der 5. November die wichtigste Nacht des Jahres.

Ähnliche Rituale. Die jährlichen „Bonfire Nights“ dienen, wie andere Rituale, dem Zusammenhalt, geben Halt und Sicherheit. Viele Herbstrituale haben allerdings mit der Ernte zu tun – oder mit dem Tod. „Thanksgiving und andere Ernterituale entwickelten sich erst in Zeiten der Landwirtschaft“, sagt Harvey Whitehouse vom „Ritual Community Conflict Project“ der Universität Oxford. So wird die Ernte in unterschiedlichsten Kulturen gefeiert, man dankt einem übernatürlichen Wesen: „Ähnliche Umwelt und Ressourcen bringen ähnliche Rituale hervor“, erklärt Whitehouse. Als die Menschen vom Jagen und Sammeln auf Ackerbau umsattelten, waren sie mit neuen Herausforderungen konfrontiert. „Das jährliche Fest ist eine von vielen Institutionen und Anpassungen, mit diesen Veränderungen umzugehen.“

Estella Weiß-Krejci vom Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Uni Wien erklärt den Zusammenhang zwischen Ernte und Totengedenkfesten unter anderem damit, dass zyklische Totenfeste einen großen Aufwand an Speis und Trank erfordern, den man sich vor der Ernte kaum leisten kann. So lässt sich auch der Zeitpunkt des Allerheiligenfestes erklären: „Es ist ja ein heidnisches Fest, das in den christlichen Kalender übernommen wurde. Zuerst kommt die Ernte, dann hat man Zeit zu feiern.“ Ein weiterer Grund sei, dass in unseren Breiten die Zeit der nahenden Kälte, des Sterbens der Natur an den Tod denken ließe.

Auch Weiß-Krejci glaubt, dass sich Feste und Rituale in unterschiedlichen Kulturen parallel entwickelten. Doch viele Riten seien Produkt eines jahrhundertelangen Kontaktes zwischen Kulturen. So wird der „Día de los Muertos“, der Tag der Toten, in Mexiko am 2. November gefeiert. Das Datum führten die Spanier ein. „Die alten Mexikaner hatten auch einen Tag, an dem die Seelen der Verstorbenen die Lebenden besuchen durften, aber das war kurz nach der Erntezeit, dort war das im August“, sagt Weiß-Krejci. Mit der Christianisierung hätte sich also lediglich das Datum verschoben – die Idee dahinter blieb.

Taiwan: Tanzen für Verstorbene

Leicht bekleidete junge Damen, die zu dröhnenden Beats tanzen und sich dabei langsam entkleiden – auch wenn sich vor allem Männer, aber auch einige Frauen und sogar Kinder an die Bühne vor der traditionellen Tempelanlage drängen, gilt die Schau nicht den Lebenden. Es wird damit der Toten gedacht. Beim sogenannten Chrysanthemenfest am neunten Tag des neunten Monats nach dem chinesischen Kalender ehren die Menschen in Taiwan ihre Verstorbenen auf eine eher unkonventionelle Weise mit Miniröcken und Pole-Dance.

Dahinter steckt der Gedanke, man müsse jedes Jahr, wenn es kühler wird und die Bäume ihr Laub verlieren, die Geister der Verstorbenen besänftigen. Es soll gelacht werden, laut und lebendig zugehen. Auch Tote sollen Spaß haben. Dass es auf diesen Feiern zum Teil etwas schlüpfrig wird, hat freilich auch in Taiwan die Sittenwächter auf die Barrikaden getrieben. Sie protestieren jedes Jahr gegen diese Art des Gedenkens.

Gänzlich unumstritten ist hingegen das traditionelle Mondfest, das jedes Jahr im Herbst in ganz Ostasien gefeiert wird. Wenn der Mond am 15. Tag des achten Mondmonats zur Gänze den Nachthimmel erleuchtet, werden bei diesem Fest in familiärer Runde schlicht und einfach süße und salzige runde „Mondkuchen“ gegessen. Das Mondfest ist sowohl in Taiwan als auch in der Volksrepublik China ein gesetzlicher Feiertag. Das Chrysanthemenfest hingegen nicht.

USA: Im Kürbisrausch

Die Hexen von Elyria waren los. Ohne Besen, aber mit schwarzen Spitzhüten, fanden sie sich in der Kleinstadt in Ohio schon zwei Wochen vor Halloween zu einem verschwörerischen Frauenabend im Restaurant „Moss“ ein, um Cocktails zu schlürfen und zum Geister-Gassenhauer „Ghostbusters“ zu wippen. John Updike hat ihnen in „Die Hexen von Eastwick“, verfilmt mit Cher, Michelle Pfeiffer und Susan Sarandon, ein literarisches Denkmal gesetzt.

Die Dekoration in den Vorstädten kündet in den USA Wochen im Voraus von dem keltischen Fest, das irische Immigranten vor rund 200 Jahren in der Neuen Welt populär machten: Riesenkürbisse in den Vorgärten, Schleier von Spinnweben in den Baumkronen, Skelette und klapprige Gespenster. Märkte bieten Kürbisse in allen Größen an, nach dem US-Motto: je größer, desto besser. Am Vorabend des katholischen Allerheiligen-Feiertags zelebrieren die US-Amerikaner ihren Karneval. Überall ziehen sie in Paraden, kostümiert und tanzend, durch die Straßen – am ausgelassensten in den Wolkenkratzerschluchten von Manhattan und anschließend in den Lokalen des West Village.

Ganz in der Nähe, am Endpunkt der hippen High Line unter dem „Standard“-Hotel, hat sich ein Biergarten als neuer schicker Treff etabliert. Und auch dieser Trend ist ein Import aus Old Europe, in diesem Fall aus Bavaria. Das Oktoberfest ist in den USA seit Längerem en vogue. Mitunter originalgetreu unter weiß-blauem Rautenmuster veranstaltet jede Nachbarschaft, die auf sich hält, ihr eigenes Fest. Brezn, Weißwurst und Weizenbier finden großen Anklang, zumindest an der Ostküste und im Mittelwesten mit ihren verwurzelten Traditionen. Wobei das Ritual um den Verzehr der Weißwurst vielfach eher Befremden auslöst.

Bayern: Die Maß der Dinge

Was für ein Forschungsauftrag für einen Ethnologen vom anderen Ende der Welt! Menschen, die sich archaisch bunt gewandet in ein kollektives Delirium stürzen, überdimensionierte Bierkrüge stemmen, selig schunkeln und im Vierminutentakt die ewig gleiche Formel grölen, mit der sie einen Gott der Gemütlichkeit beschwören.

Das bizarre Ritual heißt Oktoberfest und galt lange als authentische Ausdrucksform bayerischen Lebensgefühls. Doch seit einigen Jahren schwappt der eskapistische Taumel auf ganz Deutschland über. Sicher, der Cannstatter Wasen in Stuttgart ist seit biedermeierlichen Zeiten seine schwäbische Variante. In Hannover bemüht man sich seit 1964, die bajuwarische Orgie ins Niedersächsische zu transponieren. Doch mittlerweile wird von Flensburg bis Garmisch, von Trier bis Stralsund angezapft und angestoßen. Selbst die Hipster der Hauptstadt zwängen sich in Dirndl und Lederhosen, um dem rauen Berliner Alltag zu entfliehen. Jeder Textildiskonter bietet die Ausrüstung an. Kleider machen Bayern, im Biergarten auf dem Alexanderplatz wie im Festzelt auf dem Hauptbahnhof. In Sachen Kondition schlagen die Preußen die Münchner: Eineinhalb Monate lang stehen sie wadelstrotzend und röckeschwingend auf den Bänken. Bei der Musikauswahl beweisen sie, dass es noch ein Geschmacksregister tiefer geht: Die Blasmusik weicht der Konserve, die Lieder sind unfassbar derb. Erinnerungen an Ballermann und Hüttengaudi tragen auch den nüchternsten Norddeutschen in den weiß-blauen Himmel. Theresienwiese ist überall.

Ghana: Tanzen für den König

Während auf der Nordhalbkugel im Herbst die Ernte gefeiert und der Toten gedacht wird, feiert man im Swasiland Südafrikas Umhlanga, auch Reed Dance. Im September (also in deren Frühling) versammeln sich zehntausende unverheiratete und kinderlose Swasi-Mädchen im Dorf der Queen Mother, der Frau mit dem höchsten Rang. Das achttägige Fest beginnt damit, dass die Mädchen am Rande des Dorfes Schilf für die Queen Mother schneiden. Nach einem Tag der Rast geht es los: In farbenfrohen Kostümen, behängt mit Ketten und Armreifen, tanzen die jungen Frauen barbusig für die Familie des Königs – und zahlreiche Touristen, Schaulustige und ausländische Würdenträger. Als Zeichen ihrer Jungfräulichkeit schwenken viele der jungen Frauen die Messer, mit denen sie zuvor den Busch schnitten.

Seinen Ursprung hat der Reed Dance in einem alten Brauch der Swasi: Um ihre Jungfräulichkeit zu wahren, lebten Mädchen in Gruppen zusammen. Sobald sie ihre Geschlechtsreife erreicht hatten, gab es ein Fest, die Mädchen arbeiteten und tanzten für die Queen Mother. Doch Umhlanga half dem König früher auch, eine neue Frau zu finden. Von offizieller Seite heißt es heute, die jährliche Zeremonie diene dazu, Traditionen zu erhalten, sie solle die Queen Mother ehren und jungen Frauen Respekt verschaffen. Auch stärke Umhlanga die Solidarität unter den Frauen und feiere ihre Keuschheit.

Israel: Raus in die Laubhütte!

Der Herbst in Israel ist die Zeit der hohen Feiertage. Gerade erst sind die Sommerferien vorbei, und schon heißt es für die Jüngsten schon wieder schulfrei. Angefangen wird mit Rosh Hashana, dem „Haupt des Jahres“, das gewöhnlich in der zweiten Septemberwoche gefeiert wird. Exaktes Datum ist der 1. Tag des Monats Tischri. Auf wundersame Weise regelt es der jüdische Kalender so, dass das Neujahrsfest nie auf einen Mittwoch, Freitag oder Sonntag fällt. Tradition ist, dass die Familien zum feierlichen Abendessen zusammenkommen, an dem Honig und Äpfel nicht fehlen dürfen, damit das neue Jahr süß und gesund wird. Mit Rosh Hashana beginnt eine Zeit des Besinnens. Zehn Tage lang bleibt dem, der daran glaubt, Gelegenheit zur Reue, um sich im himmlischen Buch der Guten notieren zu lassen, anstatt in dem der Mittelmäßigen oder gar der Bösen.

Gefolgt wird das Neujahrsfest vom Jom Kippur. Für die frommen Juden bedeutet der heilige Versöhnungstag 24 Stunden fasten und beten. Fast schon Tradition ist in Israel der Streit um die frühe Uhrenumstellung auf die Winterzeit, die das Fasten angeblich erleichtert, weil es früher dunkel wird. Mit den ersten drei Sternen am Himmel ist Jom Kippur vorbei.

Eine seltsame Mischung aus Erntedank und Gedenken an den Auszug aus Ägypten ist das vier Tage später beginnende Laubhüttenfest Sukkot. Eine Woche lang nehmen Israels Fromme sämtliche Mahlzeiten im Freien ein, auch wenn es regnet. Erst danach darf die zumeist eigenhändig aus Hölzern und Zweigen gefertigte Hütte für das nächste Jahr gut verstaut werden.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 28.10.2012)

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