Mit dem öffentlichen Schuldenschnitt für Griechenland wird ein Trugbild zusammenbrechen. Die Eurozone hätte das Geschäft von Beginn an dem IWF überlassen sollen.
Es gibt Wahrheiten, die möchte man lieber nicht wahrhaben. Sie werden verdrängt, vergraben, übertüncht, aber irgendwann kommen sie an die Oberfläche. Das ist nun bei der Griechenland-Rettung der Fall. Das Trugbild einer im engen Rahmen haltbaren Hilfsaktion bricht völlig zusammen. Es wird immer deutlicher, dass Athen entweder mehr Geld, mehr Zeit oder einen weiteren Schuldenschnitt benötigt.
Die Säulen der Konstruktion, die sich die Euro-Regierungen zusammen ausgedacht haben, knicken. Ihr Fehler war es, aus Angst vor den Folgen auf den Märkten und in der jeweiligen innenpolitischen Debatte die wahren Dimensionen der Krise zu verheimlichen. Vielleicht war es auch Selbstbetrug. Sogar der Internationale Währungsfonds spielte dabei mit. So wurden Wachstumsprognosen für das Land abgegeben, die völlig illusorisch waren. Der naive Glaube nährte den Optimismus, dass ein bisschen Sparen und ein paar Reformen ausreichten. Alle hatten sie die Augen vor dem Umfeld der Rettungsaktion verschlossen: Denn eine solche Hilfe kann nur funktionieren, wenn rundum die Wirtschaft boomt. Das war einst bei Kanada so oder auch bei Schweden. Griechenland lief in einer Zeit auf Grund, als sich in ganz Europa der Spiegel ökonomischer Aussichten senkte.
Kommt es tatsächlich zum öffentlichen Schuldenschnitt für Athen, bricht allerdings weit mehr zusammen als eine falsche Prognose. Erstmals müssten Steuerzahler direkt für ein Euroland zahlen. Das Argument, es reiche aus, immer größere Rettungsschirme aufzuspannen und die Märkte zu beruhigen, würde sich damit als ebenso haltlos erweisen wie die verharmlosenden Statements von Finanzministern, wonach es ja letztlich nur um Kredite ginge, an denen die Euro-Partner sogar verdienten.
Der erste Schuldenschnitt privater Gläubiger für Griechenland konnte noch damit gerechtfertigt werden, dass jene nun einen Teil der Last tragen müssten, die aus Gewinnstreben das Risiko des Kaufs griechischer Anleihen eingegangen sind. Nun aber würden ganz normale Menschen, die nie einen Cent an solchen Finanzgeschäften verdient haben, haften. Die Behauptung, dass es zu keinem im EU-Vertrag verbotenen Bail-out komme, wäre widerlegt. Die Trickkiste der Euroländer würde mit diesem Schritt ihren Vertragsbruch offenbaren.
Damit das Trugbild noch nicht zusammenbricht, wird Griechenland vielleicht zusätzliche Zeit geben. Geschieht kein Wunder, würde das aber letztlich nur noch mehr Geld, mehr Kredite und mehr Risiko bedeuten.
Die Wahrheit ist: Griechenland ist pleite. Die Regierung in Athen hat alles versucht, die Sparauflagen zu erfüllen. Sie hinkt jedoch bei den ökonomischen Reformen wie beispielsweise der Öffnung des reglementierten Unternehmertums den Vorgaben hinterher – nicht etwa aus Faulheit, sondern auch, weil sie an die Grenzen des politisch Machbaren geraten ist. Heute die Schuld allein in Griechenland zu suchen ist naiv. Die Schuld liegt bei allen, die versucht haben, wirtschaftliche Fakten, Daten und Statistiken zu beschönigen. Das war lange die griechische Regierung, das waren aber später auch der IWF und die verantwortlichen Politiker der EU.
Nun werden viele behaupten, sie hätten es ja schon immer gewusst. Ein Ausscheiden aus dem Euro wäre die bessere Lösung gewesen, dann wären wir jetzt fein raus. Das wären wir natürlich nicht. Möglicherweise hätte eine frühere Staatsinsolvenz weniger gekostet. Sicher aber hätte auch sie einen Schuldenschnitt bedeutet, an dem alle in Europa mitgezahlt hätten: die Banken ebenso wie die Staaten und damit alle Steuerzahler. Der Fehler lag nicht darin, dass Griechenland im Euro gehalten wurde. Ein Ausscheiden hätte dem Land geschadet und weitere Länder in den Abgrund gerissen. Der Fehler lag darin, dass sich die Euro-Partner überhaupt in die Rettungsaktion eingemischt haben. Sie hätten das schwierige Geschäft von Beginn an dem IWF überlassen sollen. Er ist die internationale Organisation, die für bankrotte Staaten zuständig ist.
Für Griechenland wäre dieser Weg sicher auch schmerzvoll, aber vielleicht kürzer gewesen. Für den Rest der Eurozone wäre er ebenfalls teuer, aber ehrlicher gewesen. Bericht, Seite 1
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("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.10.2012)