USA: Das Leben nach dem Sturm

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Wirbelsturm "Sandy" hinterließ in New York eine Spur der Verwüstung. "Sandy" wurde auch Politikern gefährlich, die nicht verstanden, wie man mit der Katastrophe richtig umgeht.

Diese Bilder wären um die Welt gegangen: 47.000 Marathon-Läufer, eine Stätte der Verwüstung auf Staten Island in New York City, zerstörte Häuser, dem Erdboden gleichgemacht wie nach einem Bombenangriff, verstörte Menschen in den Straßen. Aber sie laufen und laufen und laufen.

Wären um die Welt gegangen, hätte New Yorks Bürgermeister, Mike Bloomberg, nicht Freitagnachmittag dem Druck verärgerter Bürger und aufgebrachter Blogger nachgegeben und den New-York-Marathon heute, Sonntag, in der sprichwörtlich letzten Minute doch noch absagen müssen. Zuvor hat er tagelang offenbar im „business as usual“ nach dem Hurrikan „Sandy“ seinen Rudolph-Giuliani-Moment gesucht. Sein Vorgänger war ja damit berühmt geworden, die Stadt nach den Terroranschlägen des 11. September rasch wieder in die Normalität geführt zu haben.

Sturm der Empörung im Internet

Bloomberg verstand den Unterschied offenbar nicht. Zehntausende im Internet schon, wie Laura Mello aus Astoria, einem Stadtteil von New York, die ihn per Blog wissen ließ: „Ich hätte zum ersten Mal laufen können. Ich habe seit 2008 darauf hingearbeitet. Ich habe in diesen Marathon genauso viel investiert wie andere, aber jetzt ist nicht die Zeit, Kräfte von den dringenden Rettungsarbeiten abzuziehen, Straßen zu sperren, nur damit einige Menschen ein Rennen durch die Stadt laufen können.“ Dem Sturm der Empörung im Internet konnte Bloomberg so wenig standhalten wie die Stadt dem Hurrikan.

Wie auch? Entlang der Strecke hätten sich Berge von Flaschen getürmt – mit Wasser, das in Breezy Point im Stadtteil Queens etwa dringend benötigt wird, weil es dort kein Trinkwasser mehr gibt. Auch fünf Tage nach der Katastrophe nicht. In Breezy Point sind hundert Häuser niedergebrannt. Gasleitungen sind explodiert. Dort hätte man auch die Wasserflaschen gebraucht, die noch am Freitag im Central Park für die Ankunft der Läufer aufgetürmt worden sind. Eine bizarre Situation.

In Lower Manhattan, im bekannten Wall-Street-Viertel, wären die Läufer nicht vorbeigekommen – dort, wo die Straßen unter Wasser gestanden sind, der Strom in manchen Häusern bereits Sonntagabend abgedreht worden und Montag gänzlich ausgefallen ist. Dort, wo sich die Österreicherin Alexandra Scheriau in ihrer Wohnung in der William Street im 38. Stock mit den Kerzen, die sie in den nahezu leeren Geschäften noch ergattern konnte, mit Wasser und Essen eingedeckt hat. Dort, wo die Bewohner am Sonntag noch einander Tipps gegeben haben, wie man die kommenden Tage am besten übersteht. Auch wenn der Notstrom nicht mehr funktioniert.

Straßen unter Wasser

Das Haus liegt in der Evakuierungszone B, was so viel bedeutet wie „Verlassen der Wohnung angeraten, aber nicht angeordnet“. Alexandra Scheriau packte ihren Koffer. Dienstagfrüh nach einer langen Nacht, in der sie vor allem das Bersten der Fenster fürchtete, ging sie schließlich die 38 Stockwerke hinunter. Die Straßen unter Wasser, alle Ampeln ausgefallen, alle öffentlichen Verkehrsmittel eingestellt. Sie wollte zu einer Freundin auf der Upper Westside. Nur wie? Autostoppen in New York City, jener Stadt, die immer alles hat und in der immer alles funktioniert? Nur jetzt nicht mehr. Also hielt Alexandra Scheriau einfach ein Auto auf und fragte, ob der Fahrer vielleicht nach Uptown unterwegs sei. Auch das ist New York. Er nahm sie und im Lauf der Fahrt sechs weitere Personen einfach mit.

Ab der 40. Straße, so erzählt Scheriau, dann das große Staunen. Nichts deutet auf die Verwüstungen im unteren Teil der Stadt, in Staten Island, in New Jersey hin. Alle Geschäfte sind geöffnet, auf den Straßen Menschen, vielleicht nicht so viele wie sonst, aber keine gespenstische Leere und angstmachende Dunkelheit der Stadtteile unterhalb der 30. Straße. Jetzt, fünf Tage nach dem Sturm, so erzählt sie weiter, gibt es noch andere Gefahren dort. Sie sei gewarnt worden, dass sich Personen, als Handwerker verkleidet, zu den verlassenen Gebäude Zutritt verschaffen, um dann die leeren Wohnungen auszurauben. Lower Manhattan, das ist das wohlhabende Viertel, in dem es was zu holen gibt.

Tage ohne Strom

Etwas weiter weg, im populären Little Italy, war die ehemalige Museumsangestellte Kate K. in ihrem Einfamilienhaus in der Elisabethstraße von Montag bis Freitag 16.52 Uhr ohne Strom, ohne Wasser, ohne Heizung. Im Erdgeschoß ist die Galerie ihres Mannes, eines Künstlers. Alles dunkel, alles kalt. Kate K. hat aber noch Glück. Nur vier Tage ohne Strom. Ihre Leitungen dürften unterirdisch verlaufen. Alle Viertel in New York, in denen die Stromleitungen nicht unter die Erde verlegt wurden, müssen nach dem letzten Stand der Dinge noch ein oder zwei Wochen mit Ausfall rechnen. Auch das kann ein Hurrikan in der modernsten Stadt der Welt im modernsten Land der Welt anrichten, wenn die Infrastruktur vernachlässigt wird.

Das weiß jetzt auch die Österreicherin Elvira Marin, angestellt bei einer Werbeagentur. Sie kann in ihre Wohnung im 32. Stock eines Hochhauses im Wall-Street-Viertel bis auf Weiteres überhaupt nicht mehr zurück. Am Freitag wurde ihr für kurze Zeit erlaubt, ein paar Sachen zu holen, dann wurde das Haus gesperrt: überall Gasgeruch, Explosionsgefahr, Wasser überall. Die Hälfte der Bewohner ist schon am vergangenen Sonntag der Evakuierungsaufforderung nachgekommen. Der Rest muss sich jetzt auch anderswo eine Bleibe suchen.

An Lower Manhattan, Little Italy, der Lower Eastside, wo das Leben Montagnacht von der Kraft des Sturms unterbrochen wurde, wären die Marathonläufer heute nicht vorbeigekommen. Auch nicht an jenen Gegenden in New Jersey, die diese Kraft am stärksten zu spüren bekommen haben; wo Reihe um Reihe alle Häuser verschwunden sind; sich die schlimmsten Tragödien ereignet haben und wo noch am Freitag Benzin an den Tankstellen nur nach stundenlangem Anstellen zu erhalten war; Benzin nicht nur für Autos, Benzin für Generatoren, um nach einem Kälteeinbruch irgendwie heizen zu können. Ein Sturm stößt ganze Städte vorläufig zurück auf Dritte-Welt-Status. Die Mehrheit der Tankstellen hat gar keinen Benzin mehr.

Es war New Jersey, das die Republikaner irgendwie trickreich diese Woche für Wahlkampfzwecke einsetzen wollten. Wie bei Bloombergs Beharren auf den Marathon, so machten die neuen Medien, die Blogger, das Internet, auch Mitt Romney einen Strich durch die trickreiche Rechnung. Zwar haben sich Demokraten und Republikaner am Montag darauf verständigt, den Kampf um die Präsidentschaft auszusetzen, doch das Team Romney wollte auf einen Termin im wichtigsten aller unentschlossenen Staaten, in Ohio, nicht verzichten. Also hielt man am Dienstag statt der geplanten „Victory-Versammlung“ eine „Sturmhilfe-Versammlung“ in Dayton, Ohio, ab. Von dort sollten die Medien Bilder erreichen, wie Kandidat Romney Lebensmittelspenden von seinen Sympathisanten entgegennimmt – ein Händedruck für eine Dose, sozusagen. Die Lebensmittel türmten sich auf den Tischen vor Romney. Sie würden mit Lastwagen „nach New Jersey, glaube ich“ (Romney) gebracht und verteilt werden.

Als Wahlkampfgag entlarvt

Womit sein Team nicht gerechnet hat: Jemand von der populären Webseite „BuzzFeed“ hat beobachtet, wie Mitarbeiter Romneys am Vorabend im Walmart-Supermarkt um 5000 US-Dollar Lebensmittel eingekauft haben. Sie verteilten also zuerst jene Spenden, die ihr Kandidat dann aus den Händen der Wartenden als deren Spenden entgegennehmen sollte. Was als Demonstration des „American Way“, des Zusammenhalts aller Menschen in Notsituationen, mit Romney an der Spitze gedacht war, wurde so als ganz schlechter Wahlkampfgag entlarvt. Wahrscheinlich zum Verdruss der Romney-Kampagne griff der Lieblingssender aller Demokraten, MSNBC, nicht nur den Trick mit der Unbenennung einer Wahlkampfveranstaltung auf, sondern auch die Tatsache, dass Hilfsorganisationen wie das Rote Kreuz gar keine Lebensmittel als Spenden annehmen.

Stürme im Internet können also auch politisch gefährlich sein. Lächerlich im Vergleich zu den menschlichen Tragödien, die sich zurzeit an der bevölkerungsreichen Ostküste der USA abspielen. Millionen ohne Versorgung, Hunderttausende, die alles durch den Hurrikan „Sandy“ verloren haben.

KÄLTEWELLE UND KEIN HEIZÖL

Der Hurrikan „Sandy“ wütete an der Ostküste der USA und richtete vor allem in New York schwere Zerstörungen an. In Breezy Point im Stadtteil Queens sind hunderte Häuser niedergebrannt. Der New-York-Marathon, der heute Sonntag hätte stattfinden sollen, wurde im letzten Moment abgesagt.

Den betroffenen Gebieten an der Ostküste droht nun auch eine Kältewelle. Kommende Woche stehen Temperaturen um die sechs Grad bevor, berichteten am Samstag US-Medien.
Viele Menschen sind aber nach wie vor ohne Strom, auch Benzin und Heizöl sind knapp.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 04.11.2012)

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