Extremismus

Den Islamisten aus der Schublade gibt es nicht mehr

Der globale Dschihad befinde sich in der Defensive, sagt Extremismusforscher Peter Neumann.
Der globale Dschihad befinde sich in der Defensive, sagt Extremismusforscher Peter Neumann. Anna Weise / SZ-Photo / picturedesk.com
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Die Gefahr terroristischer Anschläge geht in Österreich zunehmend von Einzeltätern aus. Die Szene wird jünger und heterogener.

Wien. Im März warnte die Polizei vor islamistischen Anschlägen in Wien. Im Mai konstatierte der Verfassungsschutzbericht eine „erhöhte Gefahr“ durch Islamisten und Rechtsextremisten. Am Samstag vereitelte die Exekutive einen Anschlag auf die Regenbogenparade in Wien. An Risiken und Warnungen war das heurige Jahr in Österreich bereits reich.

Dabei befindet sich der globale Jihad an sich in der Defensive, wie Peter Neumann am Montag im Justizministerium in Wien festhielt. Der Extremismusforscher vom Londoner King‘s College sprach bei einer Veranstaltung des Forschungsprojekts EUTEx, das sich der Deradikalisierung inhaftierter Extremisten widmet.

„Der Islamische Staat hat seine globale Attraktivität und Basis verloren“, sagte Neumann. Habe er einst seine Anhänger mit der Idee eines Kalifats begeistern können, so ziehe dieses Versprechen nun nicht mehr. Der Niedergang der Organisation, die ihr Territorium im Irak und Syrien fast vollständig verloren hat, zeige sich auch daran, dass der IS seine Propaganda „dramatisch reduziert“ habe. Vom vormals mächtigen und umfassenden Kommunikationsnetzwerk des IS seien nur noch Bruchstücke vorhanden, sagte der Fachmann.

Ebenso habe sich al-Qaida von seinen globalen Tätigkeiten zurückgezogen. Statt Anschläge im Westen zu verüben, setze die Terrororganisation darauf, mit seinen regionalen Ablegern etwa in Afrika an Macht zu gewinnen. „Die Islamisten gehen nicht weg, aber sind derzeit weniger eine Gefahr für den Westen“, so Neumann.

Mehr Attacken, weniger Opfer

Dass die Gruppen derzeit Europa weniger im Fokus haben, zeigt sich auch statistisch. Im Jahr 2015 wurden 17 islamistische Anschläge verübt, bei denen 150 Menschen starben. Im Jahr 2019 waren es 21 Attacken, bei denen zehn Menschen starben. Es habe also mehr Anschläge gegeben, doch würden diese weniger Todesopfer fordern, weil sie nicht von Gruppen organisiert werden, so Neumann.

Derzeit geht die Gefahr solcher Anschläge auch in Österreich von Einzeltätern, die oft als „einsame Wölfe“ tituliert werden, aus. Wobei Neumann infrage stellte, inwiefern die Täter wirklich „einsam“ seien. Sie würden zwar oft den Anschlag im Alleingang verüben. Aber davor würden sie sich oft gemeinsam mit anderen Menschen radikalisieren. So etwa auch der Attentäter des Wiener Anschlags vom 2. November 2020, der sich auch die Tatwaffen von Bekannten besorgt habe.

Große islamistische Netzwerke, wie es sie etwa um den mittlerweile inhaftierten Hassprediger Mirsad O. in Graz gab, sind nun selten, so Neumann. Das führe auch dazu, dass die Lage „unübersichtlicher“ und die Szene heterogener geworden sei.

Alter und soziale Medien

War der „typische“ Islamist vor einigen Jahren zwischen 18 und 25, so sind die Extremisten nun jünger. So war einer der Verdächtigen im Fall des vereitelten Anschlags auf die Regenbogenparade gerade einmal 14 Jahre alt. Das liege auch an sozialen Medien wie der Videoplattform TikTok, die zur Radikalisierung beitragen könne.

Nicht nur die Islamistenszene wird aber unübersichtlicher. Neumann verwies auf den Fall des rechtsradikalen Attentäters, der 2016 neun Menschen mit Migrationshintergrund in München erschoss. Dabei habe der 18-jährige Täter nichts ins Bild des typischen Rechtsextremisten gepasst und selbst iranische Eltern gehabt.

Als eine Herausforderung macht Neumann den Umgang mit inhaftierten und freigelassenen Extremisten aus. Für Österreich ist die Lage besonders prekär: 2023 werden nach Angaben der Direktion Staatsschutz und Nachrichtendienst einige Personen, die wegen Terrordelikten verurteilt worden sind, aus der Haft entlassen.

Deradikalisierung notwendig

Das EU-Forschungsprojekt EUTEx will hier ansetzen und erarbeitet Kurse und Forschungsmethoden zur Deradikalisierung. Dabei handelt es sich oft um eine Sisyphusarbeit. 30 bis 40 Sitzungen der Psychologen mit den Inhaftierten seien manchmal nötig, damit diese überhaupt ein Vertrauensverhältnis aufbauen, schilderte der Soziologe Ioan Durnescu. Manchmal gelinge es auch gar nicht, zu den Menschen vorzudringen.

Extremismusforscherin Daniela Pisoiu vom Österreichischen Institut für Internationale Politik und Leiterin von EUTEx betonte, wie wichtig es sei, alles auszuprobieren und nicht aufzugeben. Gemeinhin werde geglaubt, dass männliche Psychologen oder Sozialarbeiter mehr Erfolg mit den Extremisten hätten. Doch müsse das nicht immer der Fall sein, manchmal könnten Psychologinnen die bessere Wahl sein.

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