Wagner-Truppe

Prigoschin gegen Putin: Chronik eines abgesagten Putsches

Söldner der Wagner-Gruppe nahmen kurzzeitig Rostow am Don ein.
Söldner der Wagner-Gruppe nahmen kurzzeitig Rostow am Don ein.AFP/Stringer
  • Drucken

Jewgenij Prigoschin und seine Wagner-Truppe wagen den Aufstand gegen das Machtzentrum. Das Ereignis ist eine ernsthafte Bedrohung für Putins Regime – auch wenn der Kriegsunternehmer seine Männer am Abend zurückpfiff und selbst ins belarussische Exil muss.

Die Ankündigung des Aufstands kommt um 21.25 Uhr Ortszeit in Form einer Sprachnachricht auf Telegram. Jewgenij Prigoschin, Chef der russischen Söldnertruppe Wagner, spricht wie immer plärrend laut und in einer Schimpfwörter-triefenden Sprache. Die Führungsriege seiner Privatarmee Wagner habe entschieden, es sei an der Zeit, einzugreifen: „Das Unheil, das die russische Militärführung dem Land antut, muss beendet werden.“

Prigoschin ruft die Menschen auf, sich den „Wagnerowzi“, den Wagner-Kämpfern, nicht in den Weg zu stellen. Der Präsident, die Regierung, die Sicherheitskräfte – sie alle seien nicht das Ziel des Aufstandes. Um eine Abrechnung mit der russischen Militärführung gehe es ihm, um die Bestrafung derjenigen, gegen die er seit Monaten wettert: Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Generalstabschef Valerij Gerassimow. „Wir werden diejenigen zur Verantwortung ziehen, die russische Soldaten vernichten“, verspricht er. „Danach kehren wir wieder an die Front zurück.“

Was hat Prigoschin da gerade angekündigt? Ist es tatsächlich eine Kriegserklärung an die russische Militärführung? Ein Aufruf zum Putsch?

Verteidigungsminister Sergej Schoigu ist ein „Mistvieh“

Prigoschin schickt an diesem Freitagabend noch mehrere Sprachnachrichten los. Ganz kurze, aber auch längere. Es sind wütende, emotionale, drängende Stellungnahmen. Mit jeder Minute wird klarer, dass es der 62-Jährige mit dem kahlen Kopf und der gedrungenen Statur ernst meint. Er schimpft Verteidigungsminister Sergej Schoigu ein „Mistvieh“ und beschuldigt ihn, einen „Genozid“ an den Russen zu verüben. Er kündigt einen Wagner-Marsch auf Moskau an, den „Marsch der Gerechtigkeit“, um Schoigu und Gerassimow zu fassen. „Wir sind 25.000“, droht Prigoschin mit Verweis auf seine bewaffnete Truppe.

Angeblicher Raketenangriff. Anlass für Prigoschins Aufstand ist angeblich ein Angriff auf eine Wagner-Basis durch Raketen des russischen Militärs. „Eine riesige Anzahl an Kämpfern“ sei durch diese „Gräueltat“ getötet worden, behauptet Prigoschin. Von dem Vorfall gibt es ein Video, das der Geschäftsmann veröffentlicht. Darin ist ein Feuer im Gebüsch zu sehen, zerstörte Gegenstände, aber keine Leichen. Experten zweifeln an der Authentizität des Clips. Ob es den Angriff wirklich gab oder nicht, ist zweitrangig. Denn der Machtkampf zwischen Jewgenij Prigoschin und dem Moskauer Verteidigungsministerium läuft seit Monaten. In den vergangenen Tagen ist er eskaliert.

Prigoschin ist eigentlich als Unternehmer aus St. Petersburg bekannt. In seinem „Konkord“-Konzern versammelt er Immobilien, Medien, Catering-Services, Gastronomie. Seine Beziehungen zur Kreml-Elite und seine Bekanntschaft mit dem russischen Präsidenten haben ihm einst den Spitznamen „Putins Koch“ eingebracht. Seit rund einem Jahrzehnt betreibt er zudem eine private Sicherheitsfirma namens Wagner. Für die russische Führung war Wagner in der Vergangenheit an mehreren internationalen Brennpunkten tätig, an denen sich das russische Militär nicht selbst die Finger schmutzig machen wollte: in der Zentralafrikanischen Republik, in Mali und Libyen, aber auch in der Ukraine seit 2014. Breit bekannt wurde Prigoschin seit dem Vorjahr durch die Anwerbung von Häftlingen als Wagner-Kämpfer im russisch-ukrainischen Krieg. In verlustreichen monatelangen Gefechten eroberte Wagner die ostukrainische Stadt Bachmut, von der heute nur noch Ruinen übrig sind, sowie das nahe Soledar.

Zu wenig Munition und Waffen

Von Anfang an waren seine Beziehungen zum Moskauer Verteidigungsministerium angespannt. Zunächst klagte Prigoschin, dass er nicht genügend Munition und Waffen erhalte, um seine Aufgabe erfolgreich zu erledigen. Später prangerte er immer öfter mutmaßliche Fehlentscheidungen der Generäle an, kritisierte die Korruption in den Reihen der Armee und stellte die Ziele der in Kreml-Diktion „Spezialoperation“ genannten Ukraine-Invasion in Frage. Schließlich forderte das Verteidigungsministerium eine Unterordnung der privaten Sicherheitsunternehmen bis Anfang Juli. Prigoschin verweigerte die Zustimmung. Damit standen die Zeichen auf Eskalation.

Ein ganzer Kerl

Seit Kriegsbeginn ist Prigoschins Einfluss in Russland stetig gewachsen. Er mauserte sich von einem Befehlsempfänger Putins zu einem Warlord mit eigenen Ansichten und Ambitionen. In Putins gleichgeschaltetem Machtsystem wurde er zusehends zu einem Unsicherheitsfaktor. Medial gab sich Prigoschin als „muschik“, als Kerl, brutal aber ehrlich, hart aber fair, ein Kriegsverbrecher und Mörder zwar, jedoch mit Ehrenkodex. Kein Feigling, keine Memme, wie all die von ihm so gescholtenen „Kriegsbürokraten“. Für nicht wenige in Russland ist er heute schon ein Volksheld.

Und der Kreml? Der schwieg zu Prigoschins Treiben. Putin schwieg auch zu den Angriffen auf seinen langjährigen Vertrauten Schoigu. Bis er am Samstag nicht mehr schweigen konnte.

Kurz nach 10 Uhr morgens tritt der russische Präsident vor die Kameras. Gekleidet in einem schwarzen Anzug mit schwarzer Krawatte und umringt von zwei russischen Fahnen, will er wieder Herr der Lage werden. Putin spricht von „innerem Verrat“ und der Beschmutzung des Ruhmes der Wagner-Kriegshelden. Wie schon vor 100 Jahren sei nun wieder einmal die russische Staatlichkeit bedroht. Das Bemühen der historischen Parallele zum Jahr 1917, als der bolschewistische Aufstand das in den Ersten Weltkrieg verstrickte Zarenreich erschütterte und ein Bürgerkrieg ausbrach, soll die Menschen aufrütteln. „Wir lassen nicht zu, dass das Land abermals aufgeteilt wird“, sagt Putin. Den Wagner-Kämpfern rät er, die Waffen niederzulegen. Dem Drahtzieher – Prigoschin nennt er kein einziges Mal beim Namen – drohe eine harte Strafe. Bis zu 20 Jahre Gefängnis sieht das Gesetz vor.

Wagner-Truppen im südukrainischen Rostow am Don.
Wagner-Truppen im südukrainischen Rostow am Don.APA / AFP / Roman Romokhov

Zu diesem Zeitpunkt ist die Wagner-Truppe von der Ukraine kommend schon längst auf russisches Staatsgebiet vorgedrungen. Sie hat Armee-Infrastruktur im russischen Süden unter ihre Kontrolle gebracht. In der Stadt Rostow am Don haben Prigoschins Männer den Militärflughafen und das Militärhauptquartier besetzt. Letzteres ist das Logistikzentrum für die Ukraine-Invasion. Offenbar konnten die schwerbewaffneten Kämpfer in Panzern und gepanzerten Fahrzeugen ohne größere Probleme in das Zentrum der Millionenstadt vorrücken. Am Samstagnachmittag rollen Putin-treue tschetschenische Einheiten auf Rostow zu. Die Nervosität vor dem großen Blutvergießen ist groß.

Kurz davor hat der Söldner-Chef noch ein Video veröffentlicht. Gefilmt offenbar im Hof des Militärstabs, sitzt er neben zwei hochrangigen Beamten: Vizeverteidigungsminister Junus-Bek Jewkurow und dem Vize-Generalstabschef Wladimir Aleksejew. Prigoschin herrscht Jewkurow an, dass dieser kein „Gewissen“ habe und ihn nicht duzen solle, worauf Jewkurow zum höflichen „Sie“ überschwenkt. „Gebt mir Schoigu und Gerassimow“, fordert Prigoschin gebieterisch. Solang er die beiden nicht kriege, würde er Rostow blockieren und nach Moskau ziehen. Mehr als 1000 Kilometer trennen Rostow nach Moskau. 5000 Wagner-Kämpfer sollen auf dem Weg nach Moskau gewesen und bis ins Gebiet Woronesch, das auf halbem Weg liegt, gekommen sein.

Lukaschenko vermittelt

Alles sieht nach einem Sturm auf die Hauptstadt aus, bis Prigoschin am Freitagabend die Aktion abbricht. Seit Beginn des Aufstandes sind keine 24 Stunden vergangen. Hat er sich mit der Aktion doch übernommen? Hat er zu wenig Rückhalt in den russischen Sicherheitsstrukturen gefunden? Prigoschin hat von außen versucht, Putins System zu stürzen. Er ist vorerst gescheitert. Es soll kein „russisches Blut“ vergossen werden, sagt er jedenfalls, erneut in einer Sprachnachricht. Seine Männer würden sich „laut dem Plan“ in ihre Feldlager zurückziehen und Rostow am Don verlassen. So geschah es dann auch. Am Abend fuhren wieder Autos in den Straßen der südrussischen Metropole. Der Prigoschin-Spuk ist vorüber. Der Putsch ist abgewendet.

Wagner-Truppen ziehen aus Rostow am Don ab.
Wagner-Truppen ziehen aus Rostow am Don ab.Reuters / Stringer

Den „Plan“ soll der belarussische Machthaber Alexander Lukaschenko im Auftrag von Putin ausverhandelt haben. Kriegsunternehmer Prigoschin dürfte mehrere Forderungen durchgesetzt haben, darunter Straffreiheit für sich und seine Anhänger. Als Garantien für den freien Abzug habe er „das Wort des Präsidenten“. Außerdem wird laut dem Kreml ein Teil der Söldner ein Angebot unterbreitet, sich vertraglich zum Dienst in den russischen Streitkräften zu verpflichten. Prigoschin wird nach Belarus ins Exil gehen, wie am späten Abend bekannt wurde. Er kommt ohne Gefängnisstrafe davon, ganz anders, als Putin es in seiner Rede angekündigt hat. Wenn Putin sich dem Druck eines Prigoschin beugen muss, dann schwächt das auch das Ansehen des Kreml-Chefs. Auch andere Kräfte könnten in Zukunft Putins Macht herausfordern.

Zudem stellt sich die Frage, welche Teile des Sicherheitsapparats Putin bei bürgerkriegsähnlichen Zuständen verteidigt hätten. Würde sich die Rossgwardia, die auf Putins Machterhalt zugeschnittene Nationalgarde, für ihn in den Kampf werfen? Wo stehen die Geheimdienste und Spezialeinheiten wie Omon oder Alfa? Wie agiert die Armee?

Der russische Präsident, der sich als Garant für Stabilität und Sicherheit stilisierte, wurde gerade eben von einem Mann herausgefordert, der bis vor Kurzem ein Nobody war. Die durch den Ukraine-Krieg entfesselte Gewalt ist auf russisches Territorium zurückgekehrt – viel schneller als gedacht.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.