Wien-Konzert

Rammstein war einmal eine große Live-Band

Vor und bei dem Konzert (innen waren keine Agenturfotografen zugelassen) war die Stimmung gut und friedlich. Danach kam es zu einem Zwischenfall. 
Vor und bei dem Konzert (innen waren keine Agenturfotografen zugelassen) war die Stimmung gut und friedlich. Danach kam es zu einem Zwischenfall. APA / Georg Hochmuth
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Sänger Till Lindemann schwieg beim ersten der zwei Konzerte im Wiener Ernst-Happel-Stadion zu den Vorwürfen gegen ihn. Ein ORF-Reporter wurde nach dem Auftritt antisemitisch beschimpft und gerempelt.

Irgendwo meint man gelesen zu haben, dass Rammstein den Song „Deutschland“ nicht mehr spielen, seit mehrere junge Frauen Vorwürfe gegen Sänger Till Lindemann erhoben haben. Stimmt nicht. „Deutschland“ steht nach wie vor auf der Setlist der Neuen-Deutschen-Härte-Band. Auch in Wien, wo Rammstein am Mittwochabend das erste ihrer zwei Konzerte im Ernst-Happel-Stadion gaben. „Deutschland“ spielt eine Schlüsselrolle in der hässlichen Geschichte über Lindemann und die jungen Frauen aus der berüchtigten „Row Zero“ direkt vor der Bühne, die es seit Mai nicht mehr gibt. Der Song wird von Leadgitarrist Richard Z. Kruspe live zu einem Remix verarbeitet. In der Mitte der fabrikartigen Bühne ist eine Art Lift, dort lässt er sich mit einem Mischpult rauf und runter fahren. Die anderen Bandmitglieder verlassen derweil die Bühne, und kehren in schwarzen Mänteln mit LED-Grafiken wieder, in denen sie eine Art Performance geben. Eine Hommage an die Elektro-Pioniere Kraftwerk.

Ob Lindemann in Wien beim Remix in einem der Mäntel steckt oder – vermutlich – nicht, lässt sich auch aus der „Feuerzone“ knapp vor der Bühne nicht einwandfrei ausmachen. Bei früheren Auftritten, bevor die Irin Shelby Lynn ihre Eindrücke des Konzertes in Litauen Ende Mai schilderte, soll sich der Sänger während des „Deutschland“-Segments in einen kleinen Raum unter der Bühne begeben haben. Dort soll er junge Frauen getroffen haben, die von der „Castingagentin“ Alena Makeeva vorher rekrutiert worden sein sollen. „Suck Room“ oder „Suck Box“ soll das Kämmerchen genannt worden sein. Rund zehn Minuten dauert der „Deutschland“-Remix live.

Der Song darüber könnte „Mädchenfleisch“ heißen

Geschah Missbrauch in diesem Raum? In den Hotelzimmern und auf den Aftershow-Partys? Wurden diese Frauen „nur“ benutzt wie ein Gebrauchsgegenstand? Würde die Band einen Song darüber schreiben, er könnte in der typisch verknappten und brachialen Rammstein-Lyrik „Mädchenfleisch“ heißen.

Wird man je erfahren, welche Anschuldigungen zu welchem Grad stimmen? Die Staatsanwaltschaft Berlin hat Ermittlungen gegen Lindemann eingeleitet, der die Vorwürfe stets entschieden zurückweist. Der 60-jährige Sänger wiederum hat bekannte Medienanwälte engagiert, die nun vehement gegen einen Vorwurf im Speziellen vorgehen: Dass junge Frauen den Verdacht äußerten, ihnen wären möglicherweise K.-o.-Tropfen verabreicht worden. Immer schön im Konjunktiv bleiben! Vor dem Landgericht Hamburg bekam Lindemann jüngst recht und erwirkte eine einstweilige Verfügung gegen vier Aussagen der Youtuberin Kayla Shyx zu dem Thema.

Man solle auf sein Getränk aufpassen ...

Ob der Musiker damit erreicht, was er will, darf bezweifelt werden. Eher setzt der Streisand-Effekt ein. Erzählt man als Frau jemandem, dass man (alleine) auf ein Rammstein-Konzert geht, bekommt man gleich mehrfach den Ratschlag, man solle doch auf sein Getränk aufpassen . . .

Proteste begleiten die Band, auch in Wien, wo am Mittwoch nach Angaben der Protest-Veranstalter rund 1800 Menschen demonstrierten und Schilder wie „Liebe ist für alle da – außer Täter“ hochhielten. Nach dem Konzert wurde in Wien ein ORF-Team attackiert und antisemitisch beschimpft.

Im Stadion wurden von manchen der rund 55.000 Konzertbesucher Schilder hochgehalten mit Sätzen wie: „Wir halten zusammen“, „Wir halten euch die Treue“ oder „Till wir lieben dich“. Gemessen an der Stimmung dürften das nicht alle der Besucher, von denen das Gros seine Tickets weit vor dem Skandal gekauft hatte, so eindeutig sehen. Kann man die Musik von Rammstein noch hören, ohne an die Anschuldigungen zu denken? Ihre für die ausgefeilte Pyrotechnik bekannte Show genießen?

Lindemann selbst, auf der Bühne gewohnt wortkarg, zwang das Publikum nicht zu einer Antwort und wandelte anders als in Berlin keine Texte ab („Die Sänger vögeln nicht mehr“ und „Alle haben Angst vor Lindemann“). Er machte sich selbst nicht zum Thema. Er ist es ohnehin, steht unter Beobachtung, als läge er unter einem Mikroskop. Man bemerkte, dass auf sein „Hallo Wien“ zu Beginn keine Begeisterungsstürme folgten. Schaute auf die Uhr, als er beim „Deutschland“-Remix verschwand. Meinte bei „Angst“ ein „Wer hat Angst vor Flake?“ gehört zu haben (gegen Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz erhebt eine Frau ebenfalls Vorwürfe). Registrierte, dass Lindemann bei „Engel“ einen Extraweg ging und sich nicht mittels Schlauchboot von einer kleinen Bühne zurück auf die große transportieren ließ, sondern von Security begleitet in einem für ihn abgesperrten Gang mit starrem Blick vorbeihuschte. „Ohne dich kann ich nicht sein“ heißt es im Song „Ohne dich“. Am Schluss des Liedes führte der Sänger ein ans Publikum gerichtetes „und ohne euch“ an und griff sich an die Brust. Am Ende, als die Band kollektiv aufs Knie ging, folgte ein neutrales „Wien, ihr wart fantastisch. Vielen Dank, dass ihr da wart“.

Routiniert, wenig euphorisch

Zu den Zugaben ließ sich die Band nicht groß bitten. Es brauchte keine Sprechchöre, um sie auf die Bühne zurückzuholen. Routiniert spulten Rammstein in der gut zweistündigen Show ihre großen Hits ab. Im Publikum war die Stimmung gut, große Euphorie kam aber keine auf, egal wie viele Feuerwerke die Band zündete. Einmal brannte ein überdimensionaler Kinderwagen, einmal wurde Flake in einem großen Kessel „gekocht“. Schwarzer Rauch stieg auf. Papierkonfetti flogen durch die Luft. Bei „Sonne“ erstrahlte die Bühne in gleißendem Licht. Man spürte die Hitze im Gesicht.

„Ich will, dass ihr mich versteht“, sang Lindemann in „Ich will“, dem vorletzten Song des Abends. „Ich will, dass ihr mir vertraut.“ Das Vertrauen ist verspielt. Rammstein war einmal eine große Live-Band.

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