Lärm: "Wie halten Sie das aus?"

Laerm halten
Laerm halten(c) REUTERS (Damir Sagolj)
  • Drucken

Wenn Sie eine fremde Frau fragt, warum Sie laut telefonieren, könnte es Angelika Kirchschlager sein. Protokoll eines Wiener Lärmspaziergangs mit einer Empfindsamen.

Montag auf der Kärntner Straße, Uhrzeit: Mittag, Geräuschpegel: hoch. Die glänzend weißen Wände der Filiale der Kette „Tally Weijl“ spielen mit den Disco-Bässen Pingpong. Als die Verkäuferin Kumrije Edetsberger gefragt wird, ob sie Zeit hat, kurz über Musik am Arbeitsplatz zu reden, nickt sie – „ich muss nur erst leiser drehen.“


Angelika Kirchschlager: Ich würde Sie gern fragen, wie Sie die Musik aushalten.

Kumrije Edetsberger: Ich bin daran gewöhnt, aber es gibt Tage, an denen ich schlecht gelaunt bin, da kann ich das gar nicht hören.


Warum drehen Sie überhaupt so laut auf?

Das suchen wir uns nicht aus. Wir sind Franchise-Partner, das ist von der Zentrale in der Schweiz vorgegeben. Wenn der Chef anruft und es zu leise ist, müssen wir lauter drehen.


Ist die genaue Lautstärke vorgegeben?

Nicht in Dezibel, aber so laut wie vorhin sollte es schon sein. Wir verkaufen vor allem Mode für Jugendliche und denen macht die Musik Spaß. Die tanzen beim Probieren.


Aber schreckt es nicht auch Kunden ab?

Es gibt Kunden, die hineinkommen und sofort wieder herausgehen. Vor allem ältere. Für ältere Stammkunden drehe ich auch ein bisschen leiser. Ich verstehe sie ja. Ich bin selbst bald 30 und die Älteste hier. Mir fällt das mit der Musik auch schwerer als am Anfang vor sieben Jahren. Wenn ich nach Hause komme, habe ich die Musik immer noch in den Ohren.



Aktionismus der Empfindsamen. Wieder auf der Kärntner Straße. Für Sängerin Angelika Kirchschlager war das Gespräch eben nichts Ungewöhnliches. Vor ein paar Monaten begann sie Verkäuferinnen – meist sind es Frauen – in Modegeschäften oder Parfümieren zu fragen, wie sie die laute Musik ertragen. Einerseits aus Mitleid, andererseits aus Eigeninteresse: Es gebe Geschäfte, wo sie gerne einkaufen würde, die Musik sie aber nach fünf Minuten wahnsinnig mache.

Mit der Angewohnheit, fremde Leute wegen akustischer Probleme anzusprechen, ist Kirchschlager nicht allein. Unter Musikern sei solcher Aktionismus verbreitet, sagt sie, „wahrscheinlich, weil unsere Sinne empfindlicher sind. Wir alle fordern: keine Musik in Restaurants und in Geschäften.“ Nicht einmal Mozartsonaten. Ein befreundeter Dirigent, erzählt Kirchschlager, habe einmal alle Gäste im Frühstücksraum eines spanischen Hotels gefragt, ob es sie stören würde, wenn man die Musik abdrehe. „Keiner hatte etwas dagegen, es fehlt offenbar ohnehin niemandem.“

Kurzer Einschub: Tatsächlich hat man bis 1922 auch gar nicht gewusst, dass diese Art von Musik je fehlen könnte. Damals erfand der US-General George Owen Squier die „Gebrauchsmusik“, die über Telefon verbreitet und vor allem in Aufzügen eingesetzt wurde – daher der Name: Elevator music. Einschub Ende. Inzwischen sind wir ein paar hundert Meter weiter, beim „Billa“. Kirchschlager will über Piepstöne reden. Kassiererin Sonja Kronister hat Zeit.


Kirchschlager:
Wie empfinden Sie das ständige Piepen, wenn Sie Waren über die Kassa ziehen?

Sonja Kronister: Das stört mich überhaupt nicht. Nur wenn es ein Kollege extrem laut eingestellt hat.


Sie können die Lautstärke selbst regeln?

Ja. Die neuen Kollegen piepsen lauter als die alteingesessenen. Wahrscheinlich, weil sie den Geräuschpegel von den Kunden und den Kollegen nicht gewohnt sind und weil sie sich noch nicht so gut auf das eigene Piepsen konzentrieren können.


Piepsen Sie noch laut?

Nein, ich arbeite seit zwölf Jahren hier, ich bin relativ leise. Ein Neuer würde das gar nicht hören.


Reißt es Sie außerhalb des Jobs, wenn etwas piepst?

Nein. Wenn ich selbst einkaufen gehe, nehme ich alles ganz anders wahr. Wenn man sich nicht auf das Piepsen konzentriert, ist das ein ganz anderes Geräusch.


Wenn Sie nach Hause kommen, haben Sie dann Lust auf absolute Stille?


Richtige Stille ist befremdlich. Ich finde es auch komisch, wenn es hier in der Früh im Geschäft so ruhig ist.


Ist es Ihnen denn lieber, wenn es piepst?

Wenn es piepst, weiß man zumindest, dass gearbeitet wird. Wenn es leise ist, vergeht die Zeit unendlich langsam.



Alles still. Wieder unterwegs, U-Bahn, Richtung Kagran, Donauzentrum. Kirchschlager würde zu Demonstrationszwecken gern jemanden ansprechen, der laut am Mobiltelefon spricht. Aber alle sind gesittet leise. In der Businessclass des ÖBB-Railjets wäre es einfacher, sagt sie. „Da trifft man oft Geschäftsmänner – meist sind es Männer –, die den ganzen offenen Waggon zum Zuhören zwingen. Die hasse ich am meisten.“ Sie gebe den Leuten stets ein Telefonat Zeit, die Lautstärke zu dämpfen, sagt die Sängerin. Erst dann spreche sie sie an. Ganz höflich natürlich. „Die meisten reagieren erstaunt.“ Wenn sich Kirchschlager etwas wünschen könnte, dann ein Handyverbot im öffentlichen Raum: „Genauso wie es Raucherkammerln gibt, sollte es Ecken zum Telefonieren geben.“

Im Donauzentrum angekommen, sind wir bald wieder weg. In der Hollister-Filiale dürfen Mitarbeiter nicht über die Musikbeschallung reden, die ohnehin nur mäßig laut ist. Kirchschlager sagt, sie würde es schaffen, dort einen Pullover zu kaufen – „wenn es schnell geht.“ Beim „Pimkie“-Shop drehen wir gleich bei der Tür um. Zu leise, sagt Kirchschlager. Und: Gut so.

Sepp Porta: "Lärm ist gesellschaftsfähig"

Unerwartete Geräusche sind besonders stressauslösend.

Warum bedeutet Lärm Stress?

Sepp Porta: Die stärksten Adrenalinausschüttungen und Stress kriegen wir, wenn sich der Schallpegel abrupt ändert. Auch wenn statt Lärm plötzlich Totenstille eintritt. Stresshormone stellen uns auf eine unerwartete Situation ein. Die holen Zucker aus der Leber, damit wir Hirn- und Muskelleistung abdecken können.


Wieso nervt uns dann ein piepsender Lkw?

Weil uns auch Laute, die mit Gefahr verbunden sind, aufregen.


Und Kinderlärm?

Das ist genau das erratische Auf- und Abschrillen, auf das man empfindlich reagiert: schreien, lachen, singen . . .


Aber auch Lärm, der nicht abrupt anschwillt, regt auf: etwa eine Baustelle.

Baustellen machen genau das Abrupte. Es wird geklopft, gesägt, gebohrt. Wenn in der Nachbarwohnung etwas drei Wochen lang laut, aber monoton summen würde, wäre es weniger störend.


Welcher Lärm ist nicht belastend?

Weder bei der Meeresbrandung noch beim Getöse eines Wasserfalls empfindet man Stress. Auch der morgendliche Lärm der Vögel macht einem nichts.


Das hängt von der Person ab: Manche halten Vogellärm vor dem Fenster nicht aus.


Natürlich – Lärm wirkt nicht auf jeden gleich. Die Menschen haben sehr verschiedene Reizschwellen, je nach ihrer Vorgeschichte. Lärm ist – leider – sehr gesellschaftsfähig. Wo Lärm ist, ist es geschäftig, wird gearbeitet, da darf man nicht stören. Dann stellt man nicht den Lärm ab, sondern setzt die Menschen hinter Lärmschutzwände.


Zu einem schnarchenden Bettpartner kann man keine Lärmschutzwand aufstellen.

Schnarchen als Lärmbelastung klingt zwar lächerlich, ist aber für viele ein Problem. Auch hier wird es ganz individuell ertragen. Es kommt darauf an, wie viel Stress man sonst hat. Bei Adrenalin kann sich die Hormonladung addieren, das ist ungewöhnlich für Hormone: Adrenalin schaltet nie ab, das wird immer mehr.


Wie wirkt sich Stress durch Lärm auf den Körper aus?

Stress durch Lärm unterscheidet sich nicht von anderem Stress. Die Reaktion ist immer gleich: Adrenalin steigt an, dadurch wird der Stoffwechsel erhöht, damit Sie einer gefährlichen Situation Widerstand bieten können. Durch den erhöhten Energieumsatz entstehen saure Substanzen. Doch saures Blut kann weniger Sauerstoff und Nährstoffe transportieren. Der Mensch versucht, durch schnelle Atmung das Blut zu „entsäuern“. Die Säure führt aber zu Mineralstoffverlusten. Daraus entsteht ein Teufelskreis, denn Elektrolytverlust hindert uns an geruhsamem Schlaf.


Trifft das auch auf „freiwilligen“ Lärm wie laute Musik bei Rockkonzerten zu?

Stressmessungen bei Open-Air-Konzerten zeigen, dass nicht die laute Musik, sondern die Hitze zu Stressreaktionen führt. Das Problem ist, dass immer lautere Musik die Reizschwelle anhebt. Die Ohren werden ab einem gewissen Pegel geschädigt. Diese Leute werden nicht durch Stress gewarnt, dass dem Körper Schaden zugefügt wird.


Ist das ein „Stressabbau“, da man trotz Lärm keinen Stress empfindet?

Ich bin gegen das Wort „Stressabbau“. Denn Sie müssen die Belastung abbauen, nicht den Stress. Die Reaktion auf den Reiz ist ja gesund. Der Stress hilft dem Körper. Wenn sie auf nichts mehr reagieren, sind Sie todgeweiht. 

von Veronika Schmidt

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:

Mehr erfahren

Ordentliche Orte
Vier Jahre Presse am Sonntag

Ordentliche Orte

Vom Weinkeller bis zum Lesesaal, von der Bibliothek bis zum Kloster: Es gibt Plätze, die sind so aufgeräumt und still, dass sie im Kopf etwas verändern.
Schuessel Habe Macht leichtfuessig
Vier Jahre Presse am Sonntag

Schüssel: "Habe die Macht leichtfüßig abgegeben"

Wolfgang Schüssel über die nötigen Ruhephasen in der Politik, die Wirkung des Cellospiels, sein Image als "Schweigekanzler", seine Vorstellung von Luxus, und was den neuen Papst so "großartig" macht.
Normen fuer Verbrechen Regeln
Vier Jahre Presse am Sonntag

Normen für Verbrechen: Die Regeln des Totalitarismus

Das NS-Regime versuchte mit einem fast unüberschaubaren Regelwerk die Vernichtung der Juden zu "rechtfertigen".
Totale Ordnung waere Terror
Vier Jahre Presse am Sonntag

Totale Ordnung wäre Terror – oder Tod

Wie viel Klarheit, Ruhe braucht der Geist? Und wann wird es zu ruhig – totenstill? Wie viel Struktur ist im Leben nötig? Eine Einführung in das ambivalente Thema Ordnung von Johanna Rachinger.

Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.