Normen für Verbrechen: Die Regeln des Totalitarismus

Normen fuer Verbrechen Regeln
Normen fuer Verbrechen Regeln(c) APN (Sven Kaestner)
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Das NS-Regime versuchte mit einem fast unüberschaubaren Regelwerk die Vernichtung der Juden zu "rechtfertigen".

Ein Blick in die Propaganda des Nationalsozialismus vor der Machtergreifung 1933 genügt, um festzustellen, dass der Ruf nach Ordnung eine zentrale Agitationslinie gewesen ist. So polemisierte Adolf Hitler im März 1925 in einer Wahlunterstützungserklärung für den früheren Weltkriegsgeneral und erfolglosen Putschisten Erich Ludendorff gegen die Unordnung der Weimarer Republik, die durch „galizisches und anderes Lumpen- und Schieberpack... ausgeplündert wurde“ und versprach „Ruhe und Ordnung“ für den Fall der Wahl Ludendorffs zum Reichspräsidenten. Auch die Täter dieser angeblichen Unordnung wurden benannt – die eingewanderten Juden aus dem Osten.

Im Juli 1932 wurde die NSDAP bereits von 13,8 Millionen deutschen Wählerinnen und Wählern unterstützt, und Adolf Hitler hatte bereits zuvor, im März desselben Jahres, ohne Umschweife signalisiert, „in der Nation Ordnung“ schaffen zu wollen, um Deutschland auch nach außen hin Respekt zu verschaffen. Weder Ludendorff noch Hitler hatten sich aber bisher an die demokratischen Spielregeln gehalten und bereits 1923 versucht, gegen die Republik mit militärischer Gewalt zu putschen. Auch dieses Verhalten ist typisch für faschistische und autoritäre Bewegungen in der Zwischenkriegszeit, mit permanenten Versuchen, die demokratisch legitimierte Ordnung zu unterminieren, aber gleichzeitig nach Ordnung zu rufen.

Nach der Machtergreifung Hitlers 1933 baute das NS-Regime einen Doppelstaat auf, ein System, das der deutsche Emigrant und Jurist Ernst Fraenkel bereits 1941 in seinem Buch „The Dual State“ perfekt beschrieben hat. Dabei machte Fraenkel deutlich, dass der Maßnahmenstaat und der Normenstaat letztlich nicht getrennte Bereiche waren, sondern als Folge der totalen Transformation der politischen Ordnung ineinandergreifen konnten. So war beispielsweise das NS-Regime peinlichst darauf bedacht, der totalen Entrechtung der Juden den Anschein von „ordentlichen“ Maßnahmen zu geben.

„Neue Ordnung“.
Der wohl prominenteste rechtstheoretische Vordenker des rechtskonservativen Anti-Parlamentarismus und des NS-Regimes, Carl Schmitt, hat aus dieser pervertierten Machtlogik heraus 1934 über das „konkrete Ordnungsdenken“ geschrieben, dass es auf konkrete Gemeinschaften abziele, aber deren Ordnung nicht auf einem Regelsystem basiere, sondern letztlich Normen nur Mittel der Ordnung seien und daher willkürlich angepasst oder durchbrochen werden konnten. Offen polemisierte Schmitt immer wieder – lange vor 1933 – gegen den „pluralistischen Parteienstaat“ und forderte eine „substanzielle Ordnung“ und einen „einheitlichen Staatswillen“ – der auch Juden als Störung der nationalen Ordnung ausschloss.

Das NS-Regime versuchte durch ein fast unüberschaubares Regelwerk die gesellschaftliche und rechtliche Ausgrenzung, Beraubung, Vertreibung und letztendlich Vernichtung von Juden im Deutschen Reich und in fast allen Ländern Europas zu „rechtfertigen“ und sie in den Normenstaat einzubinden.

Diese Überregulierung der Durchsetzung von Unrecht diente auch dazu, die deutschen und alle mit ihnen unter Zwang oder freiwillig kollaborierenden Gesellschaften Europas durch ein „Ordnungssystem“ bei der immer unmenschlicher werdenden rassistischen Ausgrenzung und Verfolgung der jüdischen Bevölkerung auf Linie zu halten. Aus diesem Grund gibt es nach wie vor so viele Unterlagen über die Beraubung, Vertreibung und Deportation von Juden aus dem Kerngebiet des Deutschen Reiches – so auch aus Österreich.

Die relativ wenigen Beispiele von Hilfestellungen für verfolgte Juden oder gar Widerstand in Deutschland, Österreich und Europa zeigen, dass diese Politik funktioniert hat. Die Akzeptanz der „Neuen Ordnung“ des Nationalsozialismus basierte auf einer Mischung von Terror, Zuckerbrot und Propaganda sowie breiter ideologischer Überzeugung: „Zucht und Ordnung“ waren Leitbegriffe des NS-Regimes, die auch nach 1945 noch lange nachwirkten und in Meinungsumfragen zu erschreckenden Resultaten führten, da sie positiv mit dem Nationalsozialismus erinnert wurden – und in Resten bis heute erinnert werden.

Oliver Rathkolb ist Autor und Professor für Zeitgeschichte an der Universität Wien.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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