Was siehst du, wenn ich Rot sehe? Grün vielleicht?

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Kein Mensch mit drei funktionierenden Farbrezeptoren kann einem Rot-Grün-Blinden erklären, wie er die Farben sieht. Und umgekehrt. Das leuchtet ein. Aber können wir überhaupt wissen, ob andere Menschen Farben nicht ganz anders wahrnehmen? Eine Verunsicherung.

„,Ein ungeheures Feuerzeichen steht am Himmel‘, schrie der Meister. ,Und es leuchtet in einer Farbe, die ich nie zuvor gesehen habe. Wehe mir! Das ist keine irdische Farbe, und meine Augen ertragen sie nicht.‘ ,Das ist die Farbe Drommetenrot‘, rief Meister Salimbeni mit donnernder Stimme. ,Das ist die Farbe Drommetenrot, in der die Sonne leuchtet am Tag des Gerichts.‘“

Dieser grelle Dialog ist aus „Der Meister des jüngsten Tages“ von Leo Perutz. Die Pointe dieses unheimlichen Kriminalromans: Hinter all den Todesfällen steht eine Droge, die nicht nur grauenhafte Angst auslöst, sondern auch den Sehsinn so verändert, dass man eine für Menschen normalerweise unsichtbare Farbe sieht: das rätselhafte Drommetenrot, das, so Perutz, „die Farbe sein könnte, die die Physiker das Infrarot nennen“.

Könnte es sein, dass irgendein Mensch wirklich Infrarot sieht? Vielleicht durch eine kleine Mutation eines der Farbrezeptorengene – ein wenig in jenen Bereich des elektromagnetischen Spektrums hinein, der energetisch „unter“ der Farbe Rot liegt? Wie würde er uns die Aura dieser Farbe beschreiben? Als ungeheuerlich? Oder als warm und freundlich? Und würden wir überhaupt draufkommen, dass er sieht, was wir nicht sehen?

Das ist keine absurde Spekulation. Es ist in der Evolution einer Art immer wieder passiert, dass manche Individuen mehr Farben sehen als andere. Irgendwann gab es z.B. einen ersten Affen, der Rot von Grün unterscheiden konnte, was die meisten Säugetiere – die nur zwei Farbrezeptoren statt drei haben – nicht können.

Unvorstellbar? Den umgekehrten Fall kennen wir gut: Es gibt Menschen, die genau das nicht können, weil eines der beiden Farbrezeptorengene, in die sich im Lauf der Affen-Evolution das Vorläufergen aufgespalten hat, nicht funktioniert. Sie sind rot-grün-blind. Das ist nicht selten: Neun Prozent der Männer sind davon betroffen, aber nur 0,8 Prozent der Frauen. (Das liegt daran, dass das entsprechende Gen auf dem X-Chromosom liegt.)

Was sieht ein Rot-Grün-Blinder, wo ein „Trichromat“ (Mensch mit drei funktionierenden Farbrezeptoren) Rot oder Grün sieht? Kann er es ihm erklären? Erfolglos. Und kann der Trichromat dem Rot-Grün-Blinden erklären, was Rot und Grün ausmacht? Soll er sagen, dass Rot heiß wie Feuer ist und Grün frisch wie eine Wiese?

So weit, so gut. Wenn die Wahrnehmungsapparate verschieden sind, dann sind die Wahrnehmungen verschieden. Das leuchtet ein. Aber was ist, wenn die Apparate gleich sind? Woher weiß ich, dass Menschen, die erwiesenermaßen Rot rezipieren können (das lässt sich durch Untersuchung der Rezeptoren wohl feststellen), Rot auch so wahrnehmen wie ich? Könnte es nicht so sein, dass ihre Empfindung beim Anblick eines objektiv roten Gegenstandes der Empfindung gleicht, die ich beim Anblick eines objektiv grünen Gegenstandes habe, und umgekehrt?

Grünes Feuer? Nein, es würde nicht ausreichen, dass wir uns darüber austauschen, dass Rot die Farbe des Feuers und daher warm ist (bzw. Grün die Farbe der Wiese und daher frisch ist). Denn für mich ist das Feuer ja genauso rot wie für alle (und Gras ist für mich genauso grün), aber ich nehme das Grün so wahr, wie die anderen Rot wahrnehmen, und umgekehrt.

Der Linguistiker Guy Deutscher nannte dieses Gedankenexperiment verächtlich „Teenager-Metaphysik“ – und hielt „die niederschmetternde Erkenntnis“ fest, „dass man nie erfahren wird, wie andere Menschen wirklich Farben sehen“. Auch nicht, wenn wir alle Aktivitäten und Verbindungen aller Neuronen exakt messen könnten.

„Die rote Farbe, die wir wahrnehmen, ist eine Schöpfung des Gehirns unter ganz bestimmten Umständen“, konstatierte Eric Kandel in „Das Zeitalter der Erkenntnis“. Unsere Farbwahrnehmung werde „vom Gehirn erzeugt“. Zwei exakt gleiche Gehirne würden also die gleiche Farbwahrnehmung erzeugen. Aber wo findet man zwei exakt gleiche Gehirne? Und die Formulierung ist auch nur scheinbar klar: Denn wo erzeugt das Gehirn die Farbwahrnehmung? In einer konsequent materialistischen Sicht doch – nur – in sich selbst.

So bleibt offen: Ist das Rot in mir das gleiche wie das Rot in Ihnen? Und sehen Sie vielleicht Drommetenrot?

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2013)

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