Istanbul: Erdoğan erwägt Referendum über Gezi-Park

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Türkei. (c) REUTERS (OSMAN ORSAL)
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Der Premierminister traf Aktivisten der Protestbewegung. Den Streit um das Bauprojekt im Gezi-Park könnte nun ein Referendum entscheiden.

Istanbul. Der türkische Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan erwägt im Streit um das Bauprojekt im Gezi-Park die Istanbuler entscheiden zu lassen. Den Vorschlag für ein Referendum habe Erdogan bei einem Treffen mit Künstlern, Wissenschaftern und Publizisten gemacht, sagte Hüseyin Celik, Sprecher der islamisch-konservativen Regierungspartei AKP. Das Referendum könnte im betroffenen Bezirk Beyoglu oder auch in der gesamten 15-Millionen-Einwohner-Stadt Istanbul stattfinden. Die AKP ist sicher, dass sie ein Referendum gewinnen würde, sie hat derzeit sowohl in Beyoglu als auch in Istanbul die Mehrheit.

"In 24 Stunden ist alles erledigt"

Nach den bisher schwersten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Polizei in Istanbul hat Erdoğan am Mittwoch erstmals Vertreter der Protestbewegung zu einem Gespräch gebeten. Kurz vor dem Treffen wurde Erdoğan mit der Bemerkung zitiert, die Proteste würden „in 24 Stunden erledigt“ sein. Er habe dem Innenminister entsprechende Anweisungen gegeben. Auch der Gouverneur von Istanbul deutete neue Polizeiaktionen an: Der Gezi-Park, Zentrum der Proteste, müsse „so schnell wie möglich geräumt werden“.

Viel Hoffnung setzten die Demonstranten ohnehin nicht in die Verhandlungen: Viele sagten, sie rechneten bald mit einem neuen Angriff der Polizei, die am Mittwoch außerhalb des Parks hunderte Beamte und Wasserwerfer postierte. „Ich erwarte nichts, außer die nächste Attacke“, sagte Cengiz, ein 29-jähriger Aktivist im Park. Für Mittwochabend wurde zu einer neuen Demonstration in Istanbul aufgerufen.

Ein brutaler Polizeieinsatz gegen ein friedliches Sit-in von Umweltschützern im Gezi-Park am 31. Mai hatte die landesweiten Proteste ausgelöst. Im Park haben mehrere hundert Aktivisten Zelte aufgeschlagen; sie wollen bleiben, bis die Regierung auf ein Bauvorhaben auf dem Gelände verzichtet.

Straßenschlachten und Tränengas

Am Dienstag hatte die Polizei den Taksim-Platz direkt neben dem Gezi-Park besetzt und damit schwere Straßenschlachten ausgelöst, die sich bis in die frühen Morgenstunden hinzogen. Dabei drangen die Beamten mehrmals in den Gezi-Park ein, bevor sie sich wieder zurückzogen. Anschließend schoss die Polizei Tränengas in den Park hinein – trotz Zusage der Behörden, dass der Park nicht angetastet werde. Mehrere Dutzend Menschen wurden verletzt.

Erdoğan setzte in Ankara ein Treffen mit einer Gruppe von elf Künstlern, Studenten und Akademikern an, um über mögliche Lösungen für den Gezi-Park zu sprechen. Am Tag vor der Begegnung hat der Premier Härte demonstriert und gesagt, es gebe kein Nachsehen mehr. Einige der eingeladenen Aktivisten boykottierten deshalb das Gespräch. Die Gruppe „Taksim-Solidarität“, die viele Demonstranten im Gezi-Park vertritt, distanzierte sich ebenfalls. Auch mehrere Aktivisten im Park sagten, sie setzten keinerlei Hoffnungen in die Kontakte. „Das ist eine Show“, sagte der 26-jährige Deniz Tumabaylu. Die nach Ankara gereisten Gesprächspartner seien samt und sonders „Erdoğans Leute“.

Im Gezi-Park selbst bereiteten sich die Demonstranten am Mittwoch auf neue Polizeiangriffe vor. Mehrere Dutzend halb gefüllte Wasserbehälter wurden verteilt – dort werden im Ernstfall Tränengaspatronen der Polizei hineingeworfen, um sie unschädlich zu machen. An einigen Tischen stand Milch bereit, die von den Demonstranten benutzt wird, um nach einem Tränengasangriff die Augen auszuwaschen. Viele Demonstranten trugen Gasmasken und Helme, einige Aktivisten beobachteten das Verhalten der nur etwa 40 Meter vom Park entfernt postierten Polizeihundertschaften.

„Wir trauen der Polizei nicht“

„Klar werden die wieder angreifen“, sagte Mehmet Demirel, ein 29-jähriger Finanzfachmann, der sich den Protesten angeschlossen hat. „Wir trauen der Polizei überhaupt nicht mehr“, so der 26-jährige Camberk. Die Unterstützung der Istanbuler Bevölkerung für die Demonstranten hat durch die Straßenschlachten nicht gelitten – im Gegenteil. „Es kommt immer mehr hier an“, sagte ein Mann an einer Annahmestelle für Lebensmittelspenden. Zusammen mit mehreren Helfern sortierte er die Spenden: Wasser, Milch, Brot, Obst – und sogar einige Gasmasken.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.06.2013)

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