Der ökonomische Blick

Im Sommerloch wäre Zeit für Wichtigeres als den Streit um Normalität

Es gelingt uns schon eine Weile schlecht, auszudiskutieren, wie wir miteinander leben möchten.
Es gelingt uns schon eine Weile schlecht, auszudiskutieren, wie wir miteinander leben möchten.imageBROKER/Martin Moxter via www.imago-images.de
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Derzeit streiten wir mit viel emotionaler Energie über identitätspolitische Themen, kaum aber über politische Inhalte.

Acemoglu und Robertson, ein Ökonom und ein Politikwissenschaftler, haben sich vor ein paar Jahren in einem sehr interessanten Buch, das in deutscher Sprache unter dem Titel „Das Gleichgewicht der Macht“ erschienen ist, mit dem Verhältnis von Staat und Gesellschaft auseinandergesetzt. Ihre vielen Beispiele aus verschiedenen Zeiten und Erdteilen zeigen, wie schwer es ist, Staat und Gesellschaft und ihr Zusammenspiel so auszugestalten, dass die Bewohner des betreffenden Landes weder Untertanen des Staates sind, noch hilflos angesichts einer fehlenden zentralen Ordnung. In Österreich ist das Zusammenspiel in den letzten 70 Jahren gar nicht schlecht gelungen, aber das garantiert leider nichts für die Zukunft. Aushandlungsprozesse innerhalb der Gesellschaft darüber, was wir vom Staat erwarten, bedarf es immer wieder.

Es gelingt uns schon eine Weile schlecht, auszudiskutieren, wie wir miteinander leben möchten. Das gilt für viele, wenn nicht gar alle Länder der EU, aber auch darüber hinaus. In Ecuador wurde letzte Woche ein Präsidentschaftskandidat erschossen, Israel ist tief gespalten über die Rolle der Justiz, in den USA diskutiert man die Weigerung von Ex-Präsident Trump, die letzte Wahl anzuerkennen, vor Gericht. In Argentinien siegte mit Javier Milei ein libertärer „Marktradikaler“ in den Vorwahlen für die Präsidentschaft. Einzelnen Gruppen stehen sich mit unvereinbaren identitätspolitischen Vorstellungen gegenüber, die in den meisten Fällen, das Leben der meisten anderen Menschen kaum beeinflussen. Was „normal“ ist, drückt vielleicht einen Durchschnitt aus, beinhaltet aber darüber hinaus keine Wertung. Derzeit streiten wir aber mit viel emotionaler Energie über identitätspolitische Themen, kaum jedoch über politische Inhalte.

Was ist „Der ökonomische Blick“?

Jede Woche gestaltet die Nationalökonomische Gesellschaft (NOeG) in Kooperation mit der „Presse“ einen Blogbeitrag zu einem aktuellen ökonomischen Thema. Die NOeG ist ein gemeinnütziger Verein zur Förderung der Wirtschaftswissenschaften. Dieser Beitrag ist auch Teil des Defacto Blogs der wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät an der Central European University (CEU). Die CEU ist seit 2019 in Wien ansässig.

Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der „Presse“-Redaktion entsprechen.

In den letzten zwei Wochen ging es darum, ob die Regierung die anstehende automatische Gehaltsanpassung annehmen sollte oder nicht. Mehr als ein Symbol ist das nicht. Was sind eigentlich die noch ausstehenden Projekte der derzeitigen Regierung? Was wollen sie noch erreichen? Was stellt die Opposition als Alternative vor? Welche Rolle spielt in den jeweiligen Konzepten der Staat und mit wieviel Mitteln muss man ihn deshalb ausstatten? An der Annahme der automatischen, indexierten Erhöhung der PolitikerInnenbezüge hängt unsere Zukunft nicht, an der Lösung drängender Probleme schon. Dabei meine ich weniger die konkreten Projekte (Gesundheit, Pflege, Bildung, Klima) als mehr eine Klärung der Beziehung zwischen den Bürgern, einzelnen Gruppen und dem Staat. Wir können nicht gleichzeitig eine Beschneidung der Freiheit und Überregulierung beklagen und ständig neue Eingriffe in privatrechtliche Verträge fordern.

Die Erwartungen an die Zukunft sind bei vielen geschrumpft. Schaut man nur auf die Entwicklung der realen österreichischen Wirtschaftsleistung, ist das überraschend. Österreichs reale Wirtschaftsleistung hat sich seit 1950 verneunfacht. Die Entwicklung verlief stetig, kleinere und größere Einbrüche wurden schnell wieder aufgeholt. Arbeitslosigkeit ist derzeit kein größeres Problem, vom Arbeitskräftemangel ist überall die Rede. Trotzdem teilen wenige den Optimismus Enzo Webers, des Leiters des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung in Nürnberg, der überzeugt ist: „Die junge Generation wird die reichste sein, die es jemals gegeben hat“.

Im Aggregat wird das sicher stimmen, davon bin ich auch überzeugt. Dass das als Gesamtbild aber nicht verfängt, muss dann wohl an der Verteilung liegen. Aber auch da ist für Österreich nichts Gröberes auszumachen. Die durchschnittliche Wachstumsrate der kleineren Einkommen (nominal jährlich 2,4%) lagen zwischen 2006 und 2021 zwar deutlich unter den mittleren und hohen (je 3,1%) aber zu den massiven Spreizungen der Haushalteinkommen, wie sie in anderen Ländern beobachtet werden, kam es nicht. Da es in der gleichen Zeit aber auch einen deutlichen Anstieg im Anteil der erwerbstätigen Frauen gab, ist es gut möglich, dass sowohl der Anstieg der Haushalteinkommen als auch die ausbleibende Spreizung der Einkommen an der Anpassung der Haushalte lag.

Wichtiger scheint mir aber ein anderer Punkt, der in dieser Einteilung der Haushalte ebenfalls nicht aufscheinen kann. Maxime Ladaique von der OECD, die das Datenmaterial für die Einkommensvergleiche bereitgestellt hat, nennt als wichtigste Änderung seit er Einkommensvergleiche macht, dass sich das Armutsrisiko von den Alten auf die Jungen verschoben hat. Das ist eine Aussage über den Durchschnitt in der OECD und hat in erster Linie etwas mit längeren Ausbildungszeiten zu tun. Aber auch in Österreich sind die Einstiegsgehälter junger Menschen nach der Ausbildung relativ zu den Durchschnittsgehältern aller Beschäftigten in den letzten zwei Dekaden deutlich gesunken. Natürlich wird man auch in Zukunft in Österreich gut leben können, aber das Aufstiegsversprechen hat zumindest Kratzer.

Daran wird der Staat nicht viel ändern können, zumindest nicht kurzfristig. Langfristig aber schon. Wofür aber wie viele staatliche Mittel ausgegeben werden, entscheidet sehr wohl über relative Chancen in unserer Gesellschaft. Wir müssen einen Aushandlungsprozess darüber aber zulassen und gestalten, um das Zusammenleben in der Gesellschaft nicht nur aushalten zu müssen. Die Erwartung, dass der Staat sämtliche Risiken übernimmt, kann aber nur zu Enttäuschungen führen. Niemand war beispielsweise gezwungen, sich zu variablen Zinsen zu verschulden. Es war nur günstiger als fixe Zinsen. Welches Risiko wir privat belassen und welches der Allgemeinheit – es ist die Allgemeinheit, nicht der Staat – übergeben wird, muss diskutiert werden und nicht je nach politischer Situation entschieden. Die politischen Parteien müssen aufhören, Erwartungen zu erwecken und zu befeuern, die in der Art, wie unsere Gesellschaft strukturiert ist, nicht zu erfüllen sind. Es wird in einer sich ändernden Welt immer Menschen geben, die (relativ) verlieren. Aber, man bedenke die Alternative: in einer sich nicht ändernden Welt wird es niemanden geben, die/der gewinnt.

Der Autor

Jörn Kleinert, geboren 1970 in Berlin, ist Volkswirt mit einer Spezialisierung auf die Internationale Ökonomik und nach Stationen in Kiel und Tübingen seit 2010 Professor an der Universität Graz.

Jörn Kleinert
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