Abgehörte Telefonate

Russische Soldaten berichten von der Front: „Sie machen uns fertig“

Archivbild. Rekruten des 154. Preobraschenski-Regiments bei einer Eidzeremonie im Moskauer Siegesmuseum in Moskau am 12. August 2023.
Archivbild. Rekruten des 154. Preobraschenski-Regiments bei einer Eidzeremonie im Moskauer Siegesmuseum in Moskau am 12. August 2023.Imago / Alexey Maishev
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Der ukrainische Geheimdienst gab mehrere abgehörte Telefonate frei, die der Nachrichtenagentur Reuters vorliegen. Sie geben einen teilweisen Einblick in die schlechten Bedingungen, die die russischen Soldaten in der Ukraine vorfanden. „Keine Munition, nichts.“

Die Gegenoffensive der ukrainischen Armee befand sich in der zweiten Woche, als der russische Soldat Andrej seine Frau anrief und ihr von heftigen Verlusten seiner Einheit berichtete. Sie seien so schlecht ausgerüstet, erzählt er, dass er sich an die Sowjettruppen im Zweiten Weltkrieg erinnert fühlte. „Sie machen uns fertig“, sagt Andrej mit Blick auf die Militärführung in dem Gespräch am 12. Juli. „Keine Munition, nichts, sollen wir unsere Finger als Bajonette einsetzen?“

Das Telefonat ist ein Auszug aus 17 Gesprächen russischer Soldaten von der Front im Osten und Süden der Ukraine, die vom ukrainischen Geheimdienst SBU in den ersten beiden Juli-Wochen abgehört wurden. Die mit Kraftausdrücken beladenen Gespräche wurden der Nachrichtenagentur Reuters von Geheimdienst-Kreisen zur Verfügung gestellt. Sie geben einen teilweisen Einblick in die Bedingungen, die russische Soldaten in der Ukraine mitunter vorfinden. Neben fehlender Munition beklagen sie auch mangelnde Ausbildung und Gerät sowie eine schlechte Moral in der Truppe.

Name, Telefonnummer und Einheit der Soldaten veröffentlicht

Die Nachrichtenagentur Reuters konnte nicht überprüfen, wie repräsentativ die Aussagen sind und ob sie eine objektive Beschreibung der russischen Streitkräfte in der Ukraine darstellen. Die Geheimdienstkreise wollten nicht sagen, wie die zur Verfügung gestellten Aufnahmen ausgewählt wurden. Vom SBU offengelegt wurden die Namen, Telefonnummern und in den meisten Fällen die Einheiten von 15 Soldaten, die in den Aufnahmen zu hören sind. Reuters konnte verifizieren, dass die Nummern mit den Namen der Soldaten oder deren Angehörigen übereinstimmen. Anrufe der Nummern blieben allerdings entweder unbeantwortet oder wurden abgelehnt.

In dem Bericht werden die Aussagen von zehn Soldaten zusammenfasst. Deren Identität konnte Reuters verifizieren, mit Hilfe von Konten bei Sozialen Medien, in denen die Männer teilweise auch auf Fotos in Militäruniform zu sehen sind. Neil Melvin von der Londoner Denkfabrik „International Security Studies at the Royal United Services Institute“ (RUSI) hält die Aussagen für authentisch. Sie belegten den Zustand, in dem die russischen Soldaten teilweise in den Kampf geschickt würden, ohne größere Ausbildung, was zu hohen Verlusten führe. Die wiederum ließen die Spannungen innerhalb der Truppe steigen.

»Sie haben sie verdammt nochmal zerbröselt«

Maxim

Russischer Soldat

„Das war‘s, es gibt kein zweites Bataillon mehr“, sagt Maxim, ein Soldat aus der sibirischen Region Irkutsk, seiner Frau in einem Telefongespräch am 3. Juli. „Sie haben sie verdammt nochmal zerbröselt.“ Maxim beschreibt das Schicksal eines Bataillons mit in der Regel 500 Soldaten, das an der Front in Lyman im Nordosten der Ukraine kämpfte. Seine gefallenen Kameraden nennt Maxim „Cargo 200“ - ein militärisches Code-Wort noch aus Russlands Afghanistan-Krieg von 1979 bis 1989, das für einen Gefallenen steht. „Cargo 300“ ist der Code für einen Verletzten. „Letztlich konnten sie nicht mal die 300er bergen, die 300er wurden 200er“, berichtet Maxim vom Tod seiner Kameraden.

Alexej telefoniert mit seiner Mutter Elena am 12. Juli. „Sie wurden auseinandergerissen“, berichtet er von seinen Kameraden. „Sie lagen da, einige konnten sie nicht bergen, sie sind schon verfault, von Würmern angefressen“, erinnert sich Alexej. „Stell dir mal vor, an die Front geworfen, ohne Ausrüstung, mit nichts.“ Alexej wurde am 29. September 2022 eingezogen und fand sich bald an der Front wieder, wie Reuters in Erfahrung bringen konnte. Auf das Schlachtfeld geschickt wurde er trotz der öffentlichen Zusicherung von Präsident Wladimir Putin, dass die neuen Rekruten nicht an die Front müssten.

Schoigu: Ukraine hat 66.000 Soldaten bei Offensive verloren

Anfragen von Reuters zu den Aussagen an das russische Präsidialamt blieben zunächst unbeantwortet. Seinen Kommandeuren wirft Alexej vor, das tatsächliche Ausmaß der Verluste vor der Moskauer Militärführung zu verheimlichen. „Alles wird verdeckt“, berichtet der Soldat. „Jeder hat Angst ... Und letztlich ist es den Generälen egal.“

Der russische Verteidigungsminister Sergei Schoigu hat die ukrainischen Verluste seit Beginn der Gegenoffensive Kiews wierum auf mehr als 66.000 Soldaten beziffert. Daneben habe die Ukraine auch gut 7600 Waffensysteme eingebüßt, sagte Schoigu am Dienstag bei einer Videokonferenz des Ministeriums. „In keiner der (Angriffs-)Richtungen haben die Streitkräfte der Ukraine ihr Ziel erreicht“, behauptete der Minister. Unabhängig lassen sich die Angaben der Kriegsparteien nicht prüfen.

Oft neigen beide Seiten dazu, bei Aussagen zu Verlusten des Gegners zu übertreiben. Nach Angaben Schoigus hat die ukrainische Armee bei ihren Angriffsbemühungen „kolossale Verluste“ erlitten und versuche nun, dem Westen wenigstens irgendwelche Erfolge zu präsentieren, um weiter Waffenhilfe zu erhalten. Diese würde den Konflikt aber nur verlängern. Der Beschuss ziviler Objekte in Russland werde dabei in der Ukraine als militärischer Erfolg gefeiert, sagte er. (Reuters/Ag.)

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