Reifeprüfungen für ukrainische Unabhängigkeit

Das Tauziehen um die und in der Ukraine zeigt: Die politische Selbstständigkeit ist nach wie vor nicht gefestigt. Spätestens bei der Präsidentenwahl 2015 wird die politische Kultur des Landes erneut auf eine harte Probe gestellt.

Es ist wieder November und wieder Majdan – dieses ukrainische Wort meint nicht nur „Platz“, sondern bezeichnet seit 2004, dem Jahr der sogenannten Orangen Revolution, auch Massenproteste der Bürger. Diesmal ist es, wie man in Kiew sagt, ein Euro-Majdan. Denn er fordert die politische Orientierung der Ukraine an „Europa“, das heißt der Europäischen Union, ein.

Vor 22 Jahren, am 1. Dezember 1991, hatten sich bei einem Referendum 90 Prozent der Bevölkerung der Ukraine für die Unabhängigkeit von Moskau ausgesprochen, was den Zerfall der Sowjetunion besiegelte.

Im November und Dezember 2004 verteidigten die ukrainischen Bürger im Zuge der Orangen Revolution diese Unabhängigkeit. Sie protestierten so lang gegen den offenkundigen Wahlbetrug zugunsten des prorussischen Kandidaten Viktor Janukowitsch, bis sie eine Wiederholung der Wahl durchgesetzt hatten. Die gewann dann Viktor Juschtschenko.

Folgen der Sowjetepoche

Doch 2010 wurde Viktor Janukowitsch doch noch zum Präsidenten gewählt. Warum dann schon wieder Majdan? Aus der Sicht der empörten Bürger geht es erneut um die Unabhängigkeit der Ukraine. Denn Janukowitsch lehnte es am 21. November unter dem Druck der russischen Führung ab, ein Assoziationsabkommen mit der EU zu unterzeichnen.

Die aktuellen Massenproteste richten sich aber wie 2004 auch gegen den Modus der politischen Entscheidungsfindung: Janukowitsch versucht offenbar, seine Loyalität gegenüber Moskau möglichst teuer zu verkaufen oder – mit anderen Worten – sich möglichst lukrativ erpressen zu lassen.

So möchte er sich vor allem im Hinblick auf mögliche Manipulationen der Präsidentenwahlen 2015 die bedingungslose Unterstützung Wladimir Putins sichern. Mit der Orientierung nach „Europa“ geht es auf dem Majdan – wie bereits 2004 – also auch wieder um die Überwindung der sowjetischen Vergangenheit.

Die Beziehungen zwischen der Ukraine und Russland werden bis heute von den Folgen der Sowjet-Epoche bzw. den Nachwirkungen der gemeinsamen Vergangenheit überschattet. Die 2005 gemachte Aussage Putins, wonach der Zerfall der UdSSR die „größte geopolitische Katastrophe des 20. Jahrhunderts“ gewesen sei, ist inzwischen fast schon ein geflügeltes Wort.

Zahlreiche von Putins Initiativen lassen den Eindruck entstehen, dass er nichts dagegen hätte, diese „Katastrophe“ rückgängig zu machen. Dazu zählt auch der Anspruch, über die Ukraine zu bestimmen. Für das Gros der politischen Elite Russlands sowie (laut einer Meinungsumfrage vom November) 61 Prozent der Bevölkerung Russlands ist die Ukraine „kein Ausland“.

„Ukraine gehört zu Russland“

Die Ansicht, dass die Unabhängigkeit der Ukraine ein „Missverständnis“ oder ein „historischer Fehler“ sei, ist in Russland keineswegs nur in kommunistischen Kreisen und/oder unter radikalen Nationalisten verbreitet, sondern geradezu common sense. Man kann diesen Umstand mit dem Wiederaufleben eines „imperialen Bewusstseins“, mit der fehlenden Aufarbeitung der sowjetischen Vergangenheit in Russland oder auch mit beidem erklären.

Als ich im November dieses Jahres in St. Petersburg im Rahmen einer soziologischen Untersuchung Studierende interviewte, sprach ich unter anderem mit einer jungen Frau, deren Großmutter aus der Ukraine stammt. Sie erzählte mir ausführlich, wie die meisten Angehörigen der Familie der Großmutter in der Stalin-Zeit umkamen.

Doch selbst diese Vorgänge hinderten die junge Petersburgerin nicht daran, sich gegen die Unabhängigkeit der Ukraine auszusprechen. Unaufgefordert äußerte sie im Verlauf des Interviews ihre Irritation: „Ich verstehe nicht, was die da [in der Ukraine] eigentlich wollen, die gehören doch zu uns [also zu Russland]!“

Solche Aussagen sind wahrlich keine Seltenheit: Die „aufgekündigte Loyalität“ der Ukraine schmerzt in Russland sogar noch viele aus jener Generation, die die Sowjetunion nicht mehr bewusst miterlebt hat. Das propagierte Wahrnehmungsmuster der „größten geopolitischen Katastrophe“ und die wenig bis nicht aufgearbeitete Geschichte der staatlichen Gewalt in der Sowjetunion üben auf das Denken auch der jungen russischen Generation einigen Einfluss aus. „Die Jugend der Nation ist für die Eurointegration!“ heißt es dagegen auf dem Majdan in Kiew.

Schrei nach Mitbestimmung

Interessanterweise sind es in der Mehrheit gerade nicht die erfahrenen Teilnehmer an der Orangen Revolution – viele von ihnen haben auf den autoritären Kurs von Janukowitsch mit Verbitterung und Hilflosigkeit reagiert. Heute gehen vielfach Studenten auf den Majdan, die 2004 noch Kinder waren. Auf den Plätzen von Kiew, aber auch Odessas und Lvivs (Lembergs) möchten sie mitentscheiden, welches politische Profil die Ukraine haben soll. Sie verkünden die Überzeugung, dass die Machthaber vor den Bürgern verantwortlich und von ihnen zu kontrollieren sind. Eben das macht „Europa“ für sie aus. Putins Russland steht für das genaue Gegenteil.

„Die Tür für die Ukraine bleibt offen“, heißt es aus der EU. „Ihr gehört doch zu uns!“, schallt es aus Russland. Die Ukraine ist somit auch der Schauplatz eines Tauziehens zwischen Russland und der EU – und kann sich nicht definitiv entscheiden. Die Wahl zwischen dem östlichen und dem westlichen Nachbarn ist eine Frage der politischen Identität.

Ein Akt der Mündigkeit

Wer sind wir, und an welchen politischen Normen und Werten wollen wir uns orientieren? Es ist bezeichnend, dass diese Frage in der Ukraine immer noch öffentlich diskutiert werden kann, wovon in Russland schon längst keine Rede mehr ist.

Eine Wahl ist immer ein Akt der Mündigkeit und Souveränität. Genau deswegen fällt sie Janukowitsch so schwer, denn die Ukraine hat unter seiner Präsidentschaft einiges an politischer Selbstständigkeit eingebüßt.

Die im Zuge des Zerfalls der UdSSR erlangte Unabhängigkeit bedeutete nicht, dass sich diese auch im Denken der (teilweise sowjetisch bzw. russisch geprägten) ukrainischen Bevölkerung, im Modus der Entscheidungsfindung bei den Eliten und allgemein in der politischen Kultur im gleichen Maße endgültig etabliert hätte. Die Unabhängigkeit der Ukraine ist nach wie vor nicht gefestigt, und es werden zweifellos weitere Prüfungen auf sie zukommen.

Die Entscheidung „für oder gegen Europa“ muss nicht unbedingt in Gestalt eines Assoziationsabkommens mit der EU fallen. Spätestens bei den nächsten Präsidentschaftswahlen wird die politische Kultur der Ukraine erneut auf eine harte Probe gestellt. Dann wird man sehen, ob die Ukrainer bereit sind, für ihre Unabhängigkeit weiter einzustehen beziehungsweise sich wieder bewusst für sie zu entscheiden.

E-Mails an: debatte@diepresse.com



Anna Schor-Tschudnowskaja
(*1974 in Kiew) ist Soziologin und Psychologin. Derzeit wissenschaftliche Mitarbeiterin der Sigmund-Freud-Privatuniversität Wien, Mitglied der russischen Menschenrechtsorganisation Memorial. Zahlreiche Publikationen, zuletzt Mitherausgeberin des Sammelbandes „Der Zerfall der Sowjetunion“ (Nomos). [ Archiv ]

("Die Presse", Print-Ausgabe, 03.12.2013)

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