Die Weihnachtsgeschenk-Maschine

Workers pack boxes at Amazon's logistics centre in Graben
Workers pack boxes at Amazon's logistics centre in GrabenREUTERS
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Trotz massiver öffentlicher Kritik und Streiks ist der Online-Händler Amazon der große Gewinner des Weihnachtsgeschäfts. Kunden bietet er ein zuvor nicht gekanntes Service. Möglich ist dies aber nur durch extrem straff organisierte Arbeitsabläufe. Ein Lokalaugenschein.

Wenn man so will, ist Martin Andersen dafür verantwortlich, dass tausende Österreicher am kommenden Dienstag ein gelungenes Weihnachtsfest feiern können. Zumindest ist er dafür verantwortlich, dass die Geschenke unter dem Baum liegen. Denn der drahtige Däne ist Leiter des Amazon-Logistikzentrums Graben bei Augsburg – des nächsten an der österreichischen Grenze. Und damit ist er Herr über dreitausend angelernte Arbeiter, die im Advent jeden Tag rund 300.000 Artikel in dem riesigen Lager zusammensuchen, in Pakete verpacken und auf Lastwagen verladen.

Zeitgerecht möglich ist das nur durch eine straffe Organisation der Arbeitsabläufe. Ein Umstand, der in den vergangenen Wochen wiederholt für öffentliche Kritik und Streit zwischen dem US-Konzern und der deutschen Gewerkschaft geführt hat. In den letzten Tagen vor Weihnachten eskalierte dieser Streit sogar in tagelangen Streiks eines Teils der deutschen Amazon-Belegschaft.


Konzentrierte Arbeit.
„Sehen Sie hier irgendjemanden gehetzt in der Gegend herumlaufen? Das würde nur zu Fehlern führen.“ Andersen kann die Kritik von Gewerkschaftern, Undercover-Journalisten und ehemaligen Mitarbeitern (siehe Artikel unten), wonach Arbeiter bei Amazon einem viel zu hohen Druck und einer ständigen Überwachung ausgesetzt seien, nicht nachvollziehen. Und zumindest vordergründig hat er jedenfalls recht. Die Stimmung im Inneren des Logistikzentrums rund 60 Kilometer westlich von München erinnert an eine Mischung aus mittelständischem Industriebetrieb, Bibliothek und riesigem Supermarkt.

Überall gehen Mitarbeiter mit Schubwagen in verschiedenen Größen umher und holen entweder Artikel aus einem der tausenden Regale oder schlichten sie hinein. Daneben bringen Hubstapler die neue Ware von den ständig an- und abfahrenden Lkw auf Paletten an den Ausgangspunkt ihrer weiteren Reise durch das Amazon-Universum. Und zu guter Letzt rattern quer durch das Lager und über mehrere Stockwerke hinweg Förderbänder, die unzählige der omnipräsenten gelben Kisten (im englischen Amazon-Fachchinesisch „Totes“ genannt) von einer Station zur nächsten bringen.

Gehetzt wirkt dabei keiner der Arbeiter. Viel geredet oder herumgestanden wird aber auch nicht. Jeder arbeitet konzentriert an seinem Platz und vollführt ständig dieselben Arbeitsschritte. Tausende Male täglich. Wie einzelne Zahnräder in einer riesigen Maschine.


Rasantes Wachstum.
Um Amazon zu verstehen, muss man sich die Geschichte des Unternehmens ansehen. 61,1 Milliarden Dollar (44,7 Milliarden Euro) Umsatz erzielte Amazon im Vorjahr. Heuer sollen es laut Schätzungen bereits fast 75 Milliarden sein, 2009 lag dieser Wert noch bei knapp 25 Milliarden Dollar. Das erst 1994 von dem Amerikaner Jeff Bezos in Seattle gegründete Unternehmen expandiert in atemberaubender Geschwindigkeit. Der Einstieg in den deutschsprachigen Markt erfolgte im Jahr 1999 mit einem Logistikzentrum. Dieses reichte für die ersten sieben Jahre aus, erst 2006 kam das zweite hinzu. Doch bei dieser langsamen Entwicklung blieb es nicht. In den zweiten sieben Jahren von Amazon Deutschland wurden weitere sieben Zentren gebaut – fünf davon allein seit 2011.

Möglich ist diese rasante Expansion nur durch Standardisierung. Jedes der neueren Logistikzentren ist haargenau gleich aufgebaut. Egal, ob es in Deutschland, Großbritannien, den USA oder Japan steht. Auch die Größe ist in der Regel mit 110.000 Quadratmetern einheitlich: der Fläche von etwa 17 Fußballfeldern. Doch die Standardisierung endet bei Amazon nicht bei den Hallen der Zentren. Sie geht bis in die Tätigkeit von jedem der weltweit 109.000 Mitarbeiter.

Konkret wird bei Amazon jede Arbeit in so viele mögliche Einzelschritte wie möglich zerlegt. So gibt es etwa im Wareneingang („Receive“) Mitarbeiter, deren Job es nur ist, die von den Lkw abgeladenen Kisten zu öffnen und das darin enthaltene Füllmaterial herauszunehmen. Erst der nächste Mitarbeiter entnimmt die einzelnen Artikel und scannt sie, damit sie im Computersystem von Amazon Eingang finden. Diese Arbeitsteilung bringt zwar größtmögliche Effizienz, Kritiker sehen darin jedoch einen neuen Taylorismus, der aus Menschen Roboter macht.

Verschärft wird diese Kritik, da bei Amazon der Computer genau vorgibt, was zu tun ist. Ohne diesen wäre das System Amazon nicht möglich. Denn die Artikel werden in den Amazon-Zentren „chaotisch“ gelagert. Nach dem Wareneingang kommen sie zu den „Stowern“. Diese haben in der Regel zwei lange Gänge als Arbeitsfeld. Dort fahren sie entlang und schlichten Artikel ein, wo sie in den Regalen gerade Platz finden. So liegen schlussendlich Bücher neben Bohrmaschinen, Kinderspielzeug und Küchenutensilien. Der Stower scannt dabei jedesmal den Artikel und das Regalfach, wo er ihn einschlichtet. So weiß der Computer, wo was zu finden ist.

Diese Information gibt er an den „Picker“ weiter, der die von den Kunden bestellten Produkte aus den Regalen zusammensammelt. Auch er hat fixe Gänge, die er in Schleifen ständig abgeht. Was er aus welchem Regalfach nehmen muss, sagt ihm dabei sein Handscanner – das wichtigste Werkzeug eines Amazon-Mitarbeiters. Die Kritik, wonach Picker pro Schicht unnötige Kilometer gehen müssen, weist Lagerleiter Andersen zurück: „Wir wollen ja, dass die Leute viele Waren ,picken‘. Nicht, dass sie weite Wege laufen.“ Dennoch kommen laut Messungen von Undercover-Journalisten in einer Achtstundenschicht schnell 15 Kilometer und mehr zusammen.

Wenn nun ein Kunde Artikel aus verschiedenen Ecken des Lagers braucht, werden diese von verschiedenen Mitarbeitern „gepickt“ und in der Mitte zusammengeführt. „Da wird's dann richtig geil“, quittiert Logistikveteran Andersen, der zuvor jahrelang bei einem Großhändler für Autoersatzteile tätig war, diesen Arbeitsschritt euphorisch. Und es ist wahrlich faszinierend, wenn von allen Seiten ständig Hunderte der gelben Kisten herangekarrt werden, die Mitarbeiter die darin enthaltenen Waren scheinbar willkürlich kreuz und quer schlichten und sich am Ende jede Kundenbestellung passgenau in einer der Kisten auf den Weg zur letzten Station – den „Packern“ – macht.

Auch dort wird kein Arbeitsschritt dem Zufall – oder dem einzelnen Mitarbeiter – überlassen. Sobald der Artikel von dem Packer vor den Scanner gehalten wird, gibt ihm der Computer bereits die weiteren Arbeitsschritte vor: In großen Lettern prangt auf dem Monitor die Nummer der richtigen Schachtelgröße. Ist die Schachtel aufgebaut und Ware, Rechnung sowie Füllmaterial eingelegt, reicht ein Knopfdruck aus, damit das Klebeband in richtiger Breite und Länge aus einer Maschine springt. Knappe sieben Sekunden benötigt Andersen, um all diese Arbeitsschritte durchzuführen und aus einem Artikel ein fertiges Paket zu machen. „Ich bin aber auch einer der zehn Schnellsten hier in Graben“, so der Däne, um dann schnell anzufügen: „Von unseren normalen Mitarbeitern erwarten wir keine so hohe Geschwindigkeit.“


Ein Job ohne Ausbildung. Wie viel, und ob zu viel, von den Mitarbeitern verlangt wird, darüber scheiden sich jedoch die Geister. „Junge, dynamische Menschen, die gesund sind, werden die Vorgaben sicher schaffen. Für ältere und gesundheitlich angeschlagene ist es aber ein Problem“, sagt Erwin Helmer, Betriebsseelsorger der Katholischen Arbeitnehmerbewegung Augsburg, die sich auch um die Amazon-Mitarbeiter kümmert. Doch gerade auch solche sind in den Gängen und bei den Packstationen des Logistikzentrums immer wieder zu sehen. Der Grund dafür ist, dass Amazon viele seiner Mitarbeiter vom Arbeitsamt zugewiesen bekommt. Denn für den Job braucht es keine Ausbildung, nach wenigen Stunden kann ihn jeder machen.

Amazon-Sprecherin Anette Nachbar empfindet daher auch die Kritik daran, dass Amazon-Mitarbeiter nicht wie Handelsangestellte bezahlt werden, als ungerechtfertigt: „Ein Verkäufer im Handel hat eine abgeschlossene Lehre und Kundenkontakt. Unsere Mitarbeiter haben zum Großteil keinen Berufsabschluss, viele haben nicht einmal die Schule abgeschlossen.“

Ein Argument, das Thomas Gürlebeck von der Augsburger Dependance der Gewerkschaft Verdi nicht nachvollziehen kann. „Es gibt auch bei anderen Versandhändlern Tätigkeiten im Lager ohne Kundenkontakt. In der Wertschöpfungskette ist Amazon aber der Händler.“ Den Mitarbeitern würde der Tarifvertrag rund zwei Euro pro Stunde mehr sowie Urlaubs- und Weihnachtsgeld bringen. Derzeit erhalten Amazon-Mitarbeiter in Graben als Einstiegsgehalt 10,40 die Stunde – pro Monat sind das etwa 1750 Euro brutto. Je nach Performance des gesamten Zentrums können es bis zu acht Prozent mehr sein. Zum Vergleich: In Österreich erhält ein Möbelpacker laut Kollektivvertrag mindestens 1610 Euro, ein Mitarbeiter in einem Logistikzentrum der Post – wo eine ähnliche Arbeit verrichtet wird – 1330 Euro. Diese Beträge allerdings 14-mal pro Jahr.

Aber es ist eben nicht nur das Geld, das für Streit zwischen Amazon und seinen Kritikern führt. Die Kritik richtet sich grundsätzlich gegen den Zugang zum Thema Arbeit und Leistung. „Leistungsziele muss man einem Arbeitgeber zugestehen. Die gibt es auch bei anderen Versandhändlern. Bei Amazon werden sie aber in jedem Fall umgesetzt. Das Wie ist dabei egal“, meint Gürlebeck. „Wir haben Performance-Erwartungen für alle Jobs bei Amazon. Wir kommunizieren, was die Erwartungen sind für jede Aufgabe und halten Mitarbeiter auf dem Laufenden über ihre Leistung“, sagt dazu Amazon-Sprecherin Nachbar.

Es ist ein Konflikt auf einer sehr grundsätzlichen und ideologischen Ebene. Auf der einen Seite der amerikanische Zugang, wonach es für alle besser ist, wenn jeder zu seiner Höchstleistung strebt oder getrieben wird. Auf der anderen Seite das in Europa oft vorherrschende Gefühl, wonach man vor allem auf die Schwachen achten müsse.

Es ist aber auch ein Konflikt mit Ablaufdatum. So kaufte Amazon in den vergangenen Monaten mehrere Roboterhersteller und sorgte erst kürzlich mit der Idee für Schlagzeilen, Pakete per Drohnen zustellen zu wollen. Wesentlich relevanter dürfte der Einsatz von Robotern aber in den Logistikzentren des Konzerns werden. In den US-Zentren werden bereits 1300 Roboter zur Unterstützung der menschlichen Arbeiter eingesetzt. Es dürfte nur eine Frage der Zeit sein, bis die Roboter die Menschen weitgehend ersetzen. Und dann wird aus Amazon wirklich die „perfekte Maschine“.

In Zahlen

5Prozent. So viel geht vom jährlichen heimischen Weihnachtsumsatz von zwei Milliarden Euro laut Schätzungen an Amazon.

4,6Millionen. So viele Bestellungen gingen am heurigen Rekordtag, dem 15. Dezember, bei Amazon Deutschland ein. Das waren 53 Bestellungen pro Sekunde.

37Euro. So viel gab jeder Österreicher im Jahr 2012 im Schnitt bei Amazon aus.

14000Mitarbeiter. So viele Saisonkräfte nahm Amazon Deutschland zusätzlich zu den 9000 regulär Angestellten in der Adventzeit auf.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 22.12.2013)

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