Premier Orbán sucht nach Alternativen zur EU, ohne mit ihr gänzlich brechen zu wollen.
Budapest. In Ungarn steht die Welt dieser Tage Kopf. Hatte noch vor Jahren der Anschluss an den Westen oberste Priorität, wird unter der nationalkonservativen Regierung von Viktor Orbán nun die „Ostöffnung“ ein geflügeltes Wort. Erst diese Woche stattete Orbán Moskau einen Besuch ab, um dort den Ausbau des ungarischen Atomkraftwerks in der südungarischen Stadt Paks mit russischem Geld und Know-how in die Wege zu leiten. Unter der Regierung Orbán öffnete sich das Land aber auch gegenüber China, dem gesamten asiatischen Raum, den arabischen Ländern und der Türkei. Der Fokus der ungarischen Handelspolitik ist heute also eindeutig nach Osten gerichtet.
Spätestens seit der Wirtschafts- und Finanzkrise und der darauffolgenden Misere der Eurozone traut Orbán dem Westen nicht mehr so recht. Oder anders: Er traut den Rezepten nicht, die von der EU angewandt werden, um der Krise beizukommen. Laut Orbán ist der Westen, und darin die EU, einer Politik verhaftet, die in seinen Augen untauglich und nicht mehr zeitgemäß ist.
Der ungarische Premier will erkannt haben, dass die aufgeblähten Sozialsysteme in Europa nur um den Preis von immer neuen Krediten und somit Schulden aufrechterhalten werden können. Zudem ist er der Auffassung, dass Sparmaßnahmen zur Senkung der Haushaltsdefizite nicht nur den Steuerzahlern aufgebürdet werden sollten.
Im Gespann mit seinem früheren Wirtschaftsminister György Matolcsy (seit 2013 ungarischer Notenbankchef) heckte er deshalb eine „unorthodoxe“ Wirtschaftspolitik aus. Diese zielt darauf ab, die Bürger zu schonen und stattdessen jene internationalen Multis zu schröpfen, die hohe Profite einstreichen. So erhob seine Regierung gleich mehrere Sondersteuern gegenüber Banken, Handelsketten, Energieversorgern und Telekom-Unternehmen. Dass dies den Betroffenen sauer aufstieß, war zu erwarten.
Die betroffenen Firmen gingen denn auch flugs daran, gegen die Regierung Orbán in Brüssel Vertragsverletzungsverfahren anzuregen. Hinzu kommt, dass auch die ungarische Linke ihre guten westlichen Kontakte dazu nutzte, um die Öffentlichkeit im Westen gegen den „autoritären“, ja, „diktatorischen“ Orbán aufzustacheln. Der ungarische Regierungschef wird in weiten Teilen des Westens seither nicht nur als „wirtschaftsfeindlicher“, sonder auch als „antidemokratischer“ Politiker wahrgenommen.
Die unzähligen Konfrontationen Orbáns mit der EU sind also zum einen seiner negativen Wahrnehmung im Westen geschuldet. Zum anderen sind sie auf seine Politik zurückzuführen, die zum Ziel hat, die westlichen Handlungsmuster, zumal in der Wirtschaftspolitik, über Bord zu werfen. Der ungarische Premier versteht es zudem bestens, diese konfrontative Politik gegenüber der EU seinen Landsleuten als selbstbewusstes Auftreten gegen den Feind von außen zu verkaufen. Ihm kommt hierbei zugute, dass die Magyaren seit jeher dazu neigen, äußeren Mächten, in diesem Fall der EU, mit Renitenz zu begegnen.
Zwiespältige Haltung zur EU
Trotz seiner bisweilen scharfen Töne gegen Brüssel ist Orbán gleichwohl ein Befürworter der EU. Einer Union allerdings, in der die Mitgliedsländer mehr Autonomie und Bewegungsspielraum genießen sollten und ihnen nicht kleinlich vorgeschrieben werden dürfe, wie sie etwa in der Wirtschaftspolitik zu handeln hätten. Diese Sicht auf die EU dürfte wohl auch im anstehenden Wahlkampf zu den Europawahlen bei der Regierungspartei Fidesz zum Vorschein kommen.
Orbán versucht aber auch unter Beweis zu stellen, dass er kein Feind der freien Marktwirtschaft und der multinationalen Unternehmen sei, wie ihm häufig vorgeworfen wird. Zuletzt schloss er unzählige „strategische Partnerschaften“ mit den wichtigsten Multis in Ungarn ab, darunter so potente Unternehmen wie Audi, Daimler-Benz und Bosch. Das jüngste strategische Abkommen betraf übrigens die österreichische Baustofffirma Leier.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 17.01.2014)