Türkei: Kippt Präsident neues Internetgesetz?

Turkey´s leaders in Istanbul
Turkey´s leaders in Istanbul(c) REUTERS (MURAD SEZER)
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Die Einführung eines Gesetzes, das scharfe Internetkontrollen erlaubt, könnte zum Machtkampf zwischen Präsident Gül und Ministerpräsident Erdoğan werden.

Istanbul. Nach der Verabschiedung des neuen, restriktiven Internetgesetzes in der Türkei richten sich alle Augen auf Staatspräsident Abdullah Gül. Wird er das Gesetz trotz erheblicher rechtsstaatlicher Bedenken abzeichnen oder ein Veto einlegen?

Die Antwort ist nicht nur für die Lage der Grundrechte im EU-Bewerberland Türkei wichtig: Ein Veto Güls gegen das Gesetz seines alten Weggefährten, Ministerpräsident Recep Tayyip Erdoğan, würde von allen Beteiligten als „Kampfansage“ hinsichtlich der in diesem Jahr anstehenden Präsidentschaftswahl gewertet, heißt es unter Diplomaten in Ankara. Die inoffizielle Konkurrenz zwischen Gül und Erdoğan wird seit einigen Monaten immer stärker. Das Internetgesetz könnte nun zum Knackpunkt werden.

Das neue Gesetz gibt den Behörden das Recht, Internetinhalte ohne Gerichtsbeschluss, ohne Warnung und ohne Anhörung des Betroffenen innerhalb weniger Stunden zu sperren. Der Antrag eines Bürgers oder einer Institution wegen angeblicher Beleidigung durch einen Internetbeitrag genügt; inhaltlich geprüft wird der Antrag vor der Sperre nicht, erst 24 Stunden später muss ein Gericht eingeschaltet werden. Zudem wird eine zweijährige Datenvorratsspeicherung mit Zugriffsrecht der Sicherheitsorgane eingeführt.

Der Internetexperte und Jurist Yaman Akdeniz von der Istanbuler Bilgi-Universität sprach deshalb gar von einer Überwachung „Orwell'scher“ Ausmaße.

Die ohnehin schon beschnittene Internetfreiheit in der Türkei werde mit dem neuen Gesetz noch weiter eingeschränkt, kritisiert auch der Verband der türkischen Computeringenieure, der wie viele andere Organisationen auf die Barrikaden ging. Vergleiche mit dem Iran oder China machen die Runde. Scharfe Kritik kam auch von der Europäischen Union.

In den vergangenen Jahren hatten die rund 40 Millionen türkischen Internetnutzer unter anderem mit einer langfristigen Sperrung von YouTube zu kämpfen. Nun wird das Verbot einzelner Texte, Videos und Fotos für die Behörden sehr viel einfacher.

Virtuelle Verschwörung

Kritiker vermuten, dass Erdoğan mit dem Gesetz ein Instrument für den auch im Internet tobenden Machtkampf mit dem islamischen Prediger Fethullah Gülen schaffen will. Erdoğan wirft Gülen vor, die jüngsten Korruptionsvorwürfe gegen seine Regierung als Teil einer Verschwörung zu deren Entmachtung in die Welt gesetzt zu haben.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.02.2014)

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