Cheftrainer Mathias Berthold spricht nicht von Medaillen, denn die Goldfrage stellt sich nicht. Österreich kann nur überraschen.
Krasnaja Poljana. Die Stimmung im Presseraum des Österreich-Hauses erreichte ihren Siedepunkt. Dutzende Kamerateams und Fotografen drängten sich vor Cheftrainer Mathias Berthold, der die vier Starter für die Abfahrt, das wohl wichtigste Rennen dieser Winterspiele, präsentieren wollte. Es sind Max Franz, Matthias Mayer sowie Klaus Kröll und Georg Streitberger, die beiden Letzteren setzten sich im zweiten Training in Rosa Khutor in der ÖSV-internen Qualifikation durch. Mayer und Franz zeigten in den Trainings auf, ließen sich aber im letzten Lauf nicht mehr in die Karten blicken. Die Bestzeit erzielte wie schon am ersten Tag der US-Amerikaner Bode Miller.
Der Trainer wusste im ersten Augenblick nicht, wie er reagieren sollte, das Aufsehen war enorm. Dabei war es doch nur einmal mehr eine Vorschau auf ein Rennen, so wie immer im Weltcup oder bei einem Großereignis. „Ich rede nicht von Medaillen, das ist mir zu blöd. Was ich verlange ist, dass die Burschen attackieren, Leistung bringen. Dann werden wir vorn mitmischen.“
Sechs Österreicher siegten
Vorn? Olympia ist anders, Aufregung und Verlangen sind größer, bei Medien und letztlich beim Konsumenten, für den Erfolg nur in Form von Edelmetall zählbar ist. Man könnte meinen, Österreich liege im Goldfieber, dabei sind die Erwartungen für den Hit am Sonntag, 8 Uhr, bescheiden. Doch die Goldfrage stellt sich vorher nicht.
Die Abfahrt wird seit 1948 bei Winterspielen inszeniert und bislang konnten einzig Toni Sailer (1956), Egon Zimmermann (1964), Franz Klammer (1976), Leonhard Stock (1980), Patrick Ortlieb (1992) und Fritz Strobl (2002) Gold gewinnen. Sechs Österreicher krönten sich zum Sieger der Königsdisziplin.
Für Nostalgiker war Klammers Erfolg der schönste, er geschah auf dem Patscherkofel, echte „Helden“ müssen vor eigenem Publikum triumphieren. Kritiker wähnen den ÖSV in Speed-Rennen bereits seit Ewigkeiten im Hintertreffen. Das stimmt, Österreichs Skiherren gingen im Jahr 2010 in Vancouver leer aus. Und Strobls Sieg ist zwölf Jahre her...
Bei Olympia-Abfahrten haben zuletzt viele Überraschungssieger gewonnen. Antoine Deneriaz (2006) oder Didier Defago (2010) siegten – und mit ihnen hatte zuvor wirklich niemand gerechnet. Die ÖSV-Stars mussten „Niederlagen“ hinnehmen, ob knapp oder mit Pech, das spielt keine Rolle. Michael Walchhofer musste mit Silber Vorlieb nehmen, auch im Super-G blieb 2006 Gold verwehrt, Hermann Maier wurde ebenfalls mit Silber geschmückt. Und seitdem wartet die Skination auf ihre Selbstbestätigung. Aber, warum kann denn kein Überraschungssieger aus Österreich kommen? Es würde dem Gesetz dieser Serie vollkommen gerecht werden. Der wohl naiv anmutende Zugang des Beobachters traf bei Ski-Experten keineswegs auf Anklang. Er glich einem Affront, Österreich habe doch eine so große Tradition, zischte ein Reporter. Berthold aber lachte, er reagierte ehrlich, der Vorarlberger sagte: „Was einmal war, ist mir egal. Zählen tut nur der Sonntag.“ Basta.
Hysterie in Norwegen
Die Favoriten sind eindeutig andere, allen voran der Norweger Aksel Lund Svindal. „Mister Nice Guy“, wie der 31-Jährige genannt wird, rechnet sich gute Chancen aus. In Kitzbühel, „für mich eines der besten und wichtigsten Rennen der Welt“, sagt Svindal, wurde er Zweiter. Und nachdem der Sieger, Hannes Reichelt, nun bei den Spielen fehle, sei er die Nummer eins. Er führt auch im Gesamtweltcup, gewann 2010 Super-G-Gold und schickt sich nun an, als erster Norweger eine Olympia-Abfahrt zu gewinnen. Schafft er es, wäre die Euphorie im hohen Norden wohl an dem Punkt angelangt, den sonst nur Langläufer wie Petter Northug oder Marit Björgen hervorzurufen verstehen: landesweite Hysterie. Svindal nimmt das aber gelassen, er sagt: „Gold ist Gold. Du musst so viel investieren. Deswegen gilt mein größter Respekt dem Weltcup. Andererseits – wenn du erst mal bei den Spielen bist, ist es schwer zu vergleichen. Dann ist Olympia das Größte.“
Für den fünffachen Weltmeister und Gewinner von 25 Weltcuprennen steht beim Skifahren immer noch der Spaß an erster Stelle. Svindal liebt die Herausforderung, sein strahlendes Lächeln imponiert, und wenn der Norweger erst einmal zum Plaudern beginnt, scheint er kein Ende zu kennen. Und all die Fragen, sie ähneln denen, wie sie Österreichs Skifahrer gestellt bekommen. Die Schatten großer, ehemaliger Sieger liegen wie ein Fluch über den Sportlern der Gegenwart. Nahezu erdrückend wirkt der ewige Vergleich mit Klammer, Maier etc., Svindal muss sich mit Kjetil André Aamodt messen, der vier Olympia-Siege, fünf WM-Titel und 21 Weltcupsiege feiern konnte. Svindal aber muss Vergleiche nicht scheuen. „Aamodt war mein Idol, einige seiner Rekorde habe ich längst gebrochen, Er war der erfolgreichste Skifahrer.“ Die Betonung lag auf der Vergangenheit.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 08.02.2014)