Die vergessenen Fukushima-Flüchtlinge

Two-year-old Nao Watanabe plays in a ball pit at an indoor playground which was built for children and parents who refrain from playing outside because of concerns about nuclear radiation in Koriyama
Two-year-old Nao Watanabe plays in a ball pit at an indoor playground which was built for children and parents who refrain from playing outside because of concerns about nuclear radiation in Koriyama(c) REUTERS (Toru Hanai)
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Auch drei Jahre nach der Jahrhundertkatastrophe müssen tausende Überlebende in elenden Notquartieren hausen. Der Informationspolitik der Regierung trauen sie schon längst nicht mehr.

Bis jetzt haben sie stets zusammengehalten, sich immer wieder irgendwie arrangiert. Auf engstem Raum, unter primitiven Bedingungen. Haben versucht, Streit, Stress, Ärger, Verzweiflung nicht heraushängen zu lassen. Bis jetzt lebte Kiyokazu Watanabe mit seiner Frau, der Mutter, dem Sohn und dessen Familie erstaunlich konfliktfrei in einem miserablen Notquartier nahe seiner Heimatstadt Tamura. Der Clan hielt sich an die verabredete Ordnung, wer wann das winzige Bad benutzt, wer in der Miniküche die Mahlzeiten zubereitet, wer die Schlaf-Futons zusammenrollt.

Aber jetzt ist der fragile Hausfrieden geplatzt. Plötzlich streiten die Alten und die Jungen über Politik, Heimweh, Lügen und Misstrauen. Dabei könnte der Anlass doch erfreulich sein. Kurz vor dem dritten Jahrestag der Megakatastrophe mit Erdbeben, Tsunami und Reaktorunglück am 11. März 2011 kündigte Tokio an, einen kleinen Teil des nuklearen Sperrgebiets um das havarierte AKW Fukushima wieder zur Bewohnbarkeit freizugeben. Wenn das nicht nur Propaganda zum Gedenktag ist, könnte Familie Watanabe Anfang April in den Miyakoji-Distrikt von Tamura zurückkehren, in das große Holzhaus mit Gärtchen, in dem die drei Generationen eigene Zimmer bewohnten.

Unbequeme Wahrheiten

Statt Glücksgefühlen ist nun aber Zwietracht eingezogen. Kiyokazu Watanabe (66) ist begeistert, Frau und Mutter auch. Sie wollen ihr Dasein als „Atomflüchtlinge“, wie man sie in Japan nennt, endlich beenden. „Nichts ist schöner, als endlich wieder nach Hause zu dürfen.“ Dabei stört es ihn wenig, dass er faktisch Blickkontakt zur Atomruine hat und mit einem Dosimeter ausgestattet wird, um die Strahlenbelastung rund 20 Kilometer westlich vom Krisen-AKW entfernt zu messen. Und er nimmt es auch hin, dass sich in den drei Jahren Ratten und anderes Ungeziefer auf dem Grundstück breit gemacht haben.
Der Sohn aber reagiert entsetzt. Er will unter keinen Umständen in das alte Haus zurückkehren, traut der Freigabe und den amtlichen Verlautbarungen über die gesunkene Verstrahlung nicht. „Das ist viel zu gefährlich für die Gesundheit.“ Immer wieder kursieren Gerüchte über zunehmende Erkrankungen. Wie viele Betroffene fürchten die jungen Watanabes, der Atombetreiber Tepco und die Behörden könnten die Strahlenmessungen manipulieren, um gesundheitliche Gefahren herunterzuspielen und zu vertuschen.

Ausländische Ärzte beklagen, dass unbequeme Wahrheiten über die Gesundheitsfolgen der Katastrophe geheim gehalten werden, die Regierung sogar die Untersuchung strahlenbedingter Erkrankungen unterbinde. Ist das Panikmache?, fragt sich Watanabe junior. Muss man diese Warnungen ernst nehmen oder kann man den Beschwichtigungen der Behörden glauben? Wie die Watanabes stehen 358 Einwohner von Tamura vor der Entscheidung: Rückkehr oder nicht. Mehr als die Hälfte traut dem Frieden nicht, will lieber in ungeliebten Behelfsquartieren bleiben.

Andere Flüchtlinge wären glücklich, überhaupt an Heimkehr denken zu können. Ichiro Kazawa (61) rettete sich vier Minuten, bevor die erste Tsunami-Welle über Ostjapan hereinbrach, auf einen Berg. Er sah, wie die Wasserwalze Menschen, Häuser, Schiffe, Autos mit sich riss. Mit seiner Mutter kampiert Kazawa in einer winzigen Notunterkunft in Iwaki in der Fukushima-Präfektur. „Man soll den Betroffenen einfach sagen, dass sie nie wieder heim dürfen.“ Lange hatten die Behörden Betroffene in dem Glauben gelassen, sie könnten bald in ihre Heimat zurückkehren. Der definitive Satz „Sie werden nie wieder zurückkehren“ gilt im politischen Japan noch immer als tabu.

Wie lange noch lässt sich an Lug und Trug festhalten? Selbst in der regierenden LDP mehren sich Stimmen, die alle kontaminierten Gebiete endgültig für unbewohnbar erklären wollen. Das würde auch den Weg öffnen, den direkt Betroffenen staatliche Hilfe für den Neuanfang in einem sicheren Teil Japans zu geben. Gleichzeitig könnten sich die Mittel für den Wiederaufbau inklusive der aufwendigen Dekontaminierungsarbeiten auf jene Regionen konzentrieren, in denen eine Rückkehr tatsächlich möglich ist. Auf eine verbindliche Antwort warten die Betroffenen bis heute, und so wachsen Wut, Frust und Resignation. Die Versuche, die verseuchten Regionen zu entgiften, sind bisher gescheitert.
Dagegen verbreiten immer neue Hiobsbotschaften Angst und Misstrauen. Der Betreiber Tepco bekommt die Krise nicht in den Griff, immer wieder kommt es zu Störfällen, fließt kontaminiertes Wasser ins Meer und verseucht die Umgebung. „Wir haben die Wahl zwischen Pest und Cholera“, klagen die Senioren Sakiko und Yoichi Matsumoto aus Iwate. Ihr Zuhause liegt in einer Verbotszone mit extrem hohen Strahlenwerten. „Wir dürfen nicht einmal in die Nähe unseres Hauses gehen“, klagt der 83-jährige Yoichi. Ihr „provisorisches Zuhause“ ist eine billig gebaute Plattensiedlung, gedacht für ein paar Wochen – und nicht Jahre.

Alkohol, Krankheiten, Selbstmorde


Drei Jahre nach dem Jahrhundertunglück hausen noch immer 300.000 Menschen in Notquartieren. In den betroffenen Regionen gab es Pläne, für diese ohnehin schon gestraften Bürger neue Wohnungen zu bauen. Aber bürokratische Hürden, mangelndes Bauland und fehlendes Geld verhindern die Umsetzung der Pläne. Die winzigen, engen, kalten und schmucklosen Wohneinheiten, die in den drei am stärksten betroffenen Präfekturen schnell hochgezogen wurden, sind noch immer zu 85 Prozent belegt.

Nach den gegenwärtigen Bestimmungen sollen die Opfer nach vier Jahren eigentlich ausziehen. Aber die Behörden wissen, dass sie die Frist März 2015 in jedem Fall verlängern müssen. Sozialarbeiter und freiwillige Helfer berichten von zunehmendem Streit in Familien und unter Nachbarn, von Alkoholismus, Krankheiten und vielen Selbstmorden. Zugleich fehlt die medizinische Betreuung, weil viele Krankenhäuser immer noch zerstört sind. Die Auswirkungen sind alarmierend. Laut Statistik sind durch die andauernde Belastung in der Präfektur Fukushima in den letzten drei Jahren 1656 Menschen gestorben. Das sind mehr als die 1607 Opfer, die nach dem Desaster gezählt wurden. Es sind vor allem die Älteren, die dieses Leben nicht verkraften. Rund 90 Prozent der Sterbefälle, die – wie es offiziell heißt – „indirekt durch das Unglück verursacht wurden“, betrafen 66-Jährige und Ältere. „Alte Menschen werden in den engen Behausungen zunehmend schwach und können nicht mehr laufen“, so der Arzt Shunji Sekine, der in einer Notklinik in der Stadt Namie arbeitet.

Von der Regierung fühlen sich Menschen im Nordosten Japans komplett im Stich gelassen – und betrogen. Premier Shinzo Abe hatte beim Zuschlag für die Olympischen Sommerspiele in Tokio 2020 versprochen, die Lage in Fukushima sei unter Kontrolle, alles sei sicher. Fast jeder weiß, dass Fukushima mit drei geschmolzenen Reaktorkernen und ohne Schutzwall weit entfernt von jeder Kontrolle ist. Dennoch sieht Abe keine Veranlassung, sich zu korrigieren – sondern setzt im Gegenteil wieder auf Kernkraft. Der neue Energieplan für die kommenden 20 Jahre, der Ende März verabschiedet werden dürfte, definiert Atomkraft als „Baustein der Stromversorgung“.
Kritiker des Regierungskurses werden indes mundtot gemacht. Krankenversicherungen und Fachverbände geraten unter Druck, wenn sie die medizinischen Folgen des Reaktorunglücks untersuchen. Wissenschaftler dürfen „problematische“ Forschungsergebnisse über Fukushima nicht mehr veröffentlichen, Journalisten keine skeptischen Berichte schreiben. Die Verbreitung von „Staatsgeheimnissen“ wird mit hohen Haftstrafen geahndet – dazu gehören auch die brisanten Nuklearthemen. Der Präsident der öffentlich-rechtlichen Rundfunkgesellschaft NHK musste zurücktreten, weil die Fukushima-Berichte zu negativ waren.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.03.2014)

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