Jahresbilanz: Franziskus' unerhörte Offenheit

„Seid ihr den Menschen wirklich so nahe, dass ihr auch ihre verborgenen Wunden kennt? Ich frag ja nur . . .“ Franziskus vor wenigen Tagen beim Treffen mit den Priestern von Rom.
„Seid ihr den Menschen wirklich so nahe, dass ihr auch ihre verborgenen Wunden kennt? Ich frag ja nur . . .“ Franziskus vor wenigen Tagen beim Treffen mit den Priestern von Rom. REUTERS
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Vor einem Jahr haben die Kardinäle den neuen Papst gewählt. Franziskus hat die katholische Kirche durcheinandergewirbelt und das Papsttum auf eine neue Grundlage gestellt: sich selbst.

Rom. Amtsstil nach Art des Franziskus: Statt irgendwelche Feiern zu seinem ersten Amtsjubiläum heute, Donnerstag, über sich ergehen zu lassen, nimmt er seine Kurienprälaten mit in die Albaner Berge, zu den Fastenexerzitien. Erstmals finden die außerhalb des Vatikans statt. Nicht die erste Premiere.

1. Franziskus holt das Amt des Papstes vom hohen Podest herab.

„Brüder und Schwestern, guten Abend.“ Mit diesem von keiner Liturgie vorgesehenen Gruß hat sich der argentinische Kardinal Jorge Mario Bergoglio vor einem Jahr als Papst vorgestellt. Und während heute schon nach einem Satz derart gemeinmenschlicher Höflichkeit Applaus tost, wussten die Hundertfünfzig- bis Hundertachtzigtausend an jenem verregneten 13. März nicht, was sie mit diesem Mann anfangen sollen: Da stand er oben auf dem Balkon des Petersdoms, seltsam unfeierlich gekleidet; das Brustkreuz hing schief. Erst als Franziskus – „von den Brüdern Kardinälen zum Bischof von Rom gewählt“ – sich so weit nach vorn beugte, dass es aussah, als würde er über die Brüstung stürzen, als er die Gläubigen – „bevor ich euch segne“ – um den „Gefallen“ ersuchte, zuerst ihn zu segnen, als er die gemeinkirchlichen Verhältnisse umkehrte, da, in dieser unfassbaren Gebetsstille, begann es auf dem Petersplatz zu knistern. In diesem Moment war Franziskus beim Volk angekommen und das Volk bei ihm. Zu ihm drängen heute noch jeden Mittwoch dreißig-, vierzigtausend Leute; jeden Sonntag kommen zum Mittagsgebet noch einmal so viele, und die Touristensaison hat noch gar nicht richtig angefangen.

Da ist plötzlich Körperlichkeit – gegenüber dem nach außen kühlen Vatikan Benedikt'scher Prägung. Da ist Anfassen, Umarmen: „Ich brauche das“, sagt Franziskus. Und da ist der Vatikanprälat, der am Rande der Generalaudienz spitz bemerkt, Franziskus habe sich im offenen Wagen viermal so lange durch die Menge fahren und feiern lassen, als nachher seine Predigt gedauert habe.

Das Oberhaupt dieser Kirche, dieser 1,2Milliarden Katholiken in der ganzen Welt – eine normale Person? Damit ist Franziskus nicht einmal bei seinen Kardinälen durchgekommen – „und daraus können Sie sehen“, sagt einer „wie gewaltig der Unterschied zu vorher ist“. Gestandene Männer wie der Mainzer Karl Lehmann erzählen mit leuchtenden Augen, wie Franziskus, obwohl er einen eigenen Aufzug hätte, mit allen anderen nach oben fährt: „Ist bei euch noch Platz für mich?“ Andere beglückt es, wie ein Papst sich vor der Garderobe in die Schlange stellt oder wie er bei der jüngsten Kardinalsgeneralversammlung nicht als Letzter den Saal betrat, sodass alle in Ehrfurcht aufzustehen hatten, sondern wie er sich von Anfang an unter die fröhlich plaudernde Menge mischte.

2. Franziskus bezieht die Bischöfe in die Leitung der Weltkirche mit ein.

Bischof von Rom – diese Selbstbeschreibung ist für Franziskus Programm. Er will vatikanischen Zentralismus zurückdrängen, die Kurie neu ordnen. Dafür hat er sich acht Kardinäle in ein neues Beratungsgremium geholt, an der Kurie vorbei. Und er will die Bischofssynoden, die sich bisher durch Verlesen vorbereiteter Texte ausgezeichnet haben, reformieren. Und zu einer echten Beratungsinstitution machen, in der die Erfahrungen der gesamten Weltkirche berücksichtigt werden. Im Herbst ist es erstmals so weit. Da tagt die Synode zu einem spannenden Thema: der Familienseelsorge. Inklusive der Problemfelder neu verheiratete Geschiedene und Verhütungsmittel.

3. Franziskus will die katholische Kirche hinaus, an die Grenzen führen – vor jeder Reform.

Die schiere Dynamik, die Franziskus vom ersten Amtstag an entfesselt hat, ist bei allen in Rom, die man nach den ersten zwölf Monaten fragt, das beherrschende Thema. Bischöfe, die von außen in diese neue Welt kommen – im Februar waren es die österreichischen – rühmen die „unerhörte Offenheit zum angstfreien Reden auch über Themen, die vorher tabu waren“. Seit dem ersten Tag drängt er von der Zentrale aus die Kirche an die Enden, „an die räumlichen und geistigen Peripherien“. Von dort aus und noch vor allen Reformen soll diese Kirche einen neuen Blick auf sich, auf Welt und Mensch gewinnen. Aber wo genau ist diese Grenze für seine Kirche? Wie soll sie das wissen, fragt Franziskus ungeduldig zurück, wenn sie noch nicht einmal ordentlich in Bewegung geraten ist? Nie hat man einen Papst gesehen, der so häufig auf die Uhr geschaut hätte wie Franziskus.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.03.2014)

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