„Können einen Genozid nicht mit Ärzten stoppen“

Ein ruandisches Mädchen an einem Massengrab.
Ein ruandisches Mädchen an einem Massengrab. Reuters
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Interview. Jean-Hervé Bradol arbeitete während des Völkermordes 1994 für Ärzte ohne Grenzen (MSF) in Ruanda. „Die Presse“ sprach mit dem MSF-Veteranen über die Lehren aus Ruanda, den Krieg in Syrien und die neuen Konflikte.

Die Presse: Wie haben Sie Ihre Mission in Ruanda erlebt?

Jean-Hervé Bradol: Wir arbeiteten in einem Krankenhaus in der Hauptstadt Kigali. Wir fuhren jeden Tag hinaus, haben Patienten an Ort und Stelle versorgt oder für Operationen ins Spital transportiert. Das Schwierigste war, mit verwundeten Menschen die Kontrollposten zu passieren. Wir hätten dabei alle jederzeit getötet werden können. Denn die Milizen an den Kontrollposten wollten alle Tutsi umbringen. Und es war eine große Herausforderung, die Patienten im Krankenhaus zu beschützen. Wir konnten verhindern, dass Milizen in das Spital eindrangen. Aber manchmal wurden am Eingang Menschen getötet.

Obwohl sich Ärzte ohne Grenzen (MSF) strikt gegen militärische Gewalt ausspricht, hat die Organisation damals ein internationales militärisches Eingreifen gefordert. Warum?

Es bestand ganz klar die Gefahr, dass in Ruanda die Volksgruppe der Tutsi ausgelöscht wird. Deshalb haben wir damals gesagt: Wir können einen Genozid nicht mit Ärzten stoppen. Zählt nicht auf humanitäre Hilfe, sie kann nur wenige Menschen retten und nicht verhindern, dass eine ganze Volksgruppe vernichtet wird! Es ist ein Notfall, bei dem man mit militärischer Gewalt intervenieren muss, um Leben zu retten.

In anderen Krisen hat MSF aber immer wieder den Einsatz internationaler Soldaten kritisiert.

Ruanda war ein extremer Fall. Wir haben daraus die Lektion gelernt: Nicht oft, aber manchmal bist du als humanitärer Helfer mit einer Situation konfrontiert, in der die Gewalt so massiv ist, dass deine normalen Vorgehensweisen nicht funktionieren. Vor dem Völkermord in Ruanda hatten wir sehr schlechte Erfahrungen mit der Militärintervention in Somalia 1993 gemacht, die sich wirkungslos erwiesen hatte. Im Bosnien-Krieg wiederum wurde die humanitäre Hilfe von europäischen Staaten und den USA dazu benutzt, um jede Art von politischer oder militärischer Entscheidung zu verschieben, nach dem Motto: Es ist ohnehin alles unter Kontrolle, weil wir humanitäre Hilfe dorthin geschickt haben. Diese beiden unterschiedlichen Erfahrungen haben uns vor dem Fall Ruanda geprägt. Es war schwierig, aber wir haben bei Ruanda eine Ausnahme gemacht und eine Militäraktion verlangt.

Was bedeutet das für die Konflikte von heute? Wird MSF eine Intervention in Syrien fordern?

Ich denke nicht, dass wir das tun werden. Es braucht wirklich sehr außergewöhnliche Umstände, damit wir eines unserer Prinzipien – mit friedlichen Mitteln zu agieren – aufgeben. In Syrien steht MSF vor der Herausforderung, von den Konfliktparteien akzeptiert zu werden. Die syrische Regierung hat niemals die Türe für MSF geöffnet. Aufseiten der Opposition werden wir fast von allen akzeptiert. Doch es gibt ein paar sehr radikale jihaddistische Gruppen, die nicht dazu bereit sind, die Anwesenheit ausländischer Helfer zu akzeptieren.

Und was ist mit der Zentralafrikanischen Republik? Es gab zuletzt internationale Berichte, dass sich die Situation zu einem Szenario wie damals in Ruanda zuspitzen könnte.

Wir haben die Verantwortlichen der internationalen Militäraktion in der Zentralafrikanischen Republik dazu aufgefordert, der Lage der muslimischen Bevölkerungsgruppen mehr Aufmerksamkeit zu schenken. Die Muslime werden besonders attackiert und wurden fast vollständig aus dem westlichen Teil des Landes vertrieben.

Kriege haben sich verändert. Es sind nur mehr selten Konflikte zwischen Staaten, sondern Kämpfe zwischen unzähligen bewaffneten Gruppen. Was bedeutet das für Hilfsorganisationen?

Dieses Phänomen gibt es schon seit 20 Jahren. Neu ist der gestiegene Umfang der humanitären Hilfe in Krisengebieten: Internationale Organisationen haben viel mehr Personal und Ausrüstung im Einsatz als früher. Das macht aber auch verwundbarer und weckt Begehrlichkeiten. Milizen stehlen Autos von Hilfsorganisationen und missbrauchen diese dann im Kampf als Militärfahrzeuge. Oder sie verlangen „Steuern“.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.04.2014)

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