Berg-Karabach

Neuer Krieg im Kaukasus: Aserbaidschan greift armenische Stellungen an

Bilder von Artsakh Public TV zeigen Menschen, die vor Schüssen und Explosionen fliehen.
Bilder von Artsakh Public TV zeigen Menschen, die vor Schüssen und Explosionen fliehen.Reuters / Artsakh Public TV
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Seit Wochen hat Aserbaidschan Soldaten an der Grenze mit Armenien zusammengezogen. Nun hat Baku mit einem Angriff auf die Region Berg-Karabach begonnen.

Wochenlang hatte Aserbaidschan seine Truppen an der Grenze zu Armenien und der armenischen Exklave Berg-Karabach aufgefahren. Am Dienstag schlug die aserbaidschanische Armee zu und nahm die Stadt Stepanakert unter Beschuss. Auf X (früher Twitter) berichteten Bewohner der Region von Explosionen und von Artilleriebeschuss.

Offiziell sprach das aserbaidschanische Verteidigungsministerium von einer „Anti-Terror-Operation“, Beobachter haben aber schon seit Längerem vor einem Kriegsbeginn gewarnt. Baku will die Kontrolle über das von Armenien kontrollierte Gebiet übernehmen - auch mit Waffengewalt. Später gab Baku bekannt, dass man „humanitäre Korridore“ errichte, um den Zivilisten das Verlassen der Region zu ermöglichen.

EU-Außenbeauftragter fordert Ende der Offensive

Auf Twitter berichten Augenzeugen davon, wie der Luftalarm in Stepanakert losging und die Stadt von einer Reihe von Explosionen erschüttert wurde.

Armeniens Außenministerium sprach von einer „umfangreichen Aggression“ Aserbaidschans in Berg-Karabach. Es rief den UN-Sicherheitsrat und die in der Region stationierten russischen Friedenstruppen auf, die aserbaidschanischen Angriffe sofort zu stoppen. Moskau gab bekannt, die russischen Soldaten seien nur Minuten vor der Militäroperation von Aserbaidschan davon informiert geworden. Der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell verurteilte die neue Gewalt in Berg-Karabach. Er forderte Aserbaidschan dazu auf, die Offensive umgehend einzustellen. 

Armenien warnte seit Längerem vor einem Angriff Bakus: „Aserbaidschan demonstriert Absichten einer neuen militärischen Provokation gegen Berg-Karabach und Armenien“, sagte der armenische Premier Nikol Paschinjan vor etwa einer Woche. Er forderte rasches Handeln der Vereinten Nationen und der internationalen Gemeinschaft, um ein Blutvergießen zu verhindern. In einer Reaktion sprach Aserbaidschan dagegen von „politischer Manipulation“ vonseiten Armeniens.

Lange Konfliktgeschichte

Armenien und Aserbaidschan verbindet eine lange Konfliktgeschichte um die Gebirgsprovinz Berg-Karabach. Bereits zwei Mal in der jüngsten Vergangenheit haben die beiden Nachbarstaaten den Territorialkonflikt mit Gewalt zu lösen versucht. Im ersten Krieg in den Neunzigerjahren besiegten armenische Verbände das größere und ressourcenreichere Aserbaidschan; Berg-Karabach, völkerrechtlich ein Teil Aserbaidschans, wurde de facto unabhängig. Nach vielen Jahren ergebnisloser Verhandlungen startete Baku dann im Herbst 2020 den Versuch, die Provinz zurückzuerobern. Die armenische Seite wurde in dem 44 Tage dauernden Krieg empfindlich geschwächt.

Prekäre Sicherheitslage seit 2020

Berg-Karabachs Sicherheitslage ist seit dem Waffenstillstand im November 2020 prekär. Die Karabach-Armenier mussten einst besetzte aserbaidschanischen Gebiete abtreten und verloren den Großteil ihrer Provinz. Für die Sicherheit der 120.000 Armenier sollen seit Kriegsende russische Friedenssoldaten garantieren. Doch diese schreiten gegen Provokationen von aserbaidschanischer Seite nicht ein. So blockiert Baku seit zehn Monaten die einzige Zufahrtsstraße in das Gebiet, deren freie Passage die russischen Truppen eigentlich hätten garantieren sollen.

Auch Armeniens Situation hat sich seit dem Ende des jüngsten Kriegs verschlechtert, da es wegen der Gebietsabtretungen an Aserbaidschan mit seinem Nachbarn nun eine lange Staatsgrenze teilt, an der immer wieder lokale Gefechte ausbrechen. „Es könnte sein, dass Alijew nun die historische Chance sieht, Armenien aufzulösen“, befürchtet Tatev Hayrapetyan im Gespräch mit der „Presse“. Hayrapetyan, eine frühere Parlamentsabgeordnete von Paschinjans Partei Zivilvertrag, beobachtet als Analystin die aserbaidschanische Medienlandschaft. Dabei hat sie besorgniserregende Entwicklungen festgestellt.

Massenmedial betreibe Aserbaidschan schon seit Längerem eine aggressive Rhetorik, erläutert Hayrapetyan. Die Message an das einheimische Publikum sei: „Es muss etwas unternommen werden.“ Der aserbaidschanische Machthaber Ilham Alijew bezeichne Armenien seit dem Vorjahr als „West-Aserbaidschan“. Hayrapetyan: „Das ist ein Schritt, der die Basis schafft für weitere aggressive Handlungen.“

Es gibt mehrere Gründe, warum Alijew gegenwärtig die gewaltsame Lösung für aussichtsreicher halten könnte als die Fortführung der Verhandlungen mit dem Kriegsgegner.

„Strategischer Fehler“ Armeniens

Alijews Ziel ist die territoriale Integration Berg-Karabachs in sein Staatsgebiet. Die Karabach-Armenier wehren sich gegen diesen Schritt, der das Ende ihrer Unabhängigkeit und womöglich das Ende ihrer Existenz bedeuten würde. Tatsächlich ist schwer vorstellbar, wie ein armenisch geprägtes Karabach unter der autoritären Führung Bakus existieren könnte. Seit zehn Monaten versucht Baku mit seiner Blockade die Karabach-Armenier zur Aufgabe (oder zur Flucht) zu zwingen. Aufgrund des armenischen Widerstands ist bisher keines der beiden Szenarien eingetreten. Doch die Krise vor Ort spitzt sich zu, die Lebensmittel werden knapp. Bald könnte es erste Hungertote geben. Ein Krieg könnte in Alijews Augen die Lösung des Problems beschleunigen. Zudem ist für einen Angriff das zeitliche Fenster begrenzt. Baku bleiben für die entscheidende Phase ein paar Wochen. Vor drei Jahren begann der Krieg am 27. September.

Ein weiterer Wunsch von Aserbaidschan ist die Einrichtung einer Landverbindung in die zwischen der Türkei und Armenien liegende aserbaidschanische Exklave Nachitschewan. Zwar sieht das Waffenstillstandsabkommen von 2020 vor, dass der Waren- und Personenverkehr zwischen Aserbaidschan und Nachitschewan unter russischer Kontrolle künftig möglich sein soll. Da Armenien und Aserbaidschan sich aber bisher auf keinen Friedensdeal einigen konnten, gibt es keinen Durchbruch in der Grenzfrage. Bakus Forderungen nach einem „Korridor“, der ihm in der südlichsten armenischen Provinz Sjunik (bekannt auch als Sangesur) zustehe, werden seit einiger Zeit lauter.

In dieser zugespitzten Lage hat Armenien seine diplomatische Maschine angeworfen und sendet ungewöhnliche außenpolitische Signale. Man bemühte sich um Kontakte mit dem Westen, suchte Unterstützer und hoffte auf Initiativen zur Konfliktlösung. Premier Paschinjan sprach in letzter Zeit in immer kritischeren Tönen über Russland und distanzieret sich offen von Moskaus Ukraine-Invasion. Erst vor ein paar Tagen sprach er von einem „strategischen Fehler“, sich in Sicherheitsfragen einzig auf Russlands Schutz verlassen zu haben. Armenien zog seinen Vertreter bei dem von Moskau geführten Verteidigungsbündnis Organisation des Vertrags über die Kollektive Sicherheit (ODKB) zurück. Auch ein möglicher Austritt aus der Organisation wird zumindest diskutiert.

Überraschungsbesuch in Kiew

Sogar mit Kiew intensivierte man die Kontakte, nachdem Jerewan aufgrund seiner Partnerschaft mit Russland lang zur russischen Aggression gegen die Ukraine geschwiegen hatte. Diese Woche schickte Jerewan erstmals humanitäre Hilfe nach Kiew – und zeitgleich trat Paschinjans Frau, Anna Hakobyan, bei Olena Selenskas Summit of First Ladies auf. Moskau beschwerte sich auch über eine gemeinsame Militärübung der USA mit Armenien, ließ aber die aserbaidschanische Truppenkonzentration unerwähnt. (som, red.)

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