Interview

EGMR-Präsidentin O‘Leary: „Der Gerichtshof fördert Migration nicht“

„Wir maßen uns nie die Macht eines Gesetzgebers oder der Exekutive an“, sagt Síofra O’Leary, Präsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte.
„Wir maßen uns nie die Macht eines Gesetzgebers oder der Exekutive an“, sagt Síofra O’Leary, Präsidentin des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. Caio Kauffmann
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Síofra O’Leary, Präsidentin des Euro­pä­ischen Gerichtshofs für Menschenrechte, warnt im „Presse“-Exklusivinterview vor dem „ganz falschen Ver­ständ­nis“, der Gerichtshof hätte eine bestimmte Haltung zur Migration.

Die Europäische Menschenrechtskonvention und ihre Auslegung durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) in Straßburg werden immer wieder für die wachsenden Migrationsströme nach Europa mitverantwortlich gemacht. So hat sich etwa der steirische Landeshauptmann Christopher Drexler (ÖVP) vor einiger Zeit kritisch zur „fortlaufenden Weiterinterpretation“ der Menschenrechte durch Straßburg geäußert und die Frage nach der Legitimation eines „sich verselbstständigenden Richterrechts“ aufgeworfen.

In einem ihrer seltenen Interviews tritt nun die aus Irland stammende Präsidentin des Straßburger Gerichtshofs, Síofra O’Leary, dem Vorwurf entgegen, der EGMR fördere die Migration. Der Gerichtshof sei auch gar nicht grundsätzlich, sondern nur anhand von Einzelfällen mit Einwanderungs-, Migrations- und Asylfragen befasst.

Für Aufsehen hat jüngst auch eine Klimaklage von sechs jungen Menschen aus Portugal gegen 32 Staaten einschließlich Österreichs gesorgt. Im Gespräch mit der „Presse“ will sich O‘Leary, die anlässlich des österreichischen Verfassungstags zu Besuch in Wien war, nicht zu den Aussichten dieser Klage äußern. Ganz allgemein merkt sie aber an, dass der Gerichtshof nicht nur die Rechte Einzelner schütze, sondern auch die Grundwerte von Demokratie und Rechtsstaat. „Wir maßen uns nie die Macht eines Gesetzgebers oder der Exekutive an“, sagt O‘Leary.

Die Presse: Sie sind jetzt bald ein Jahr im Amt. Wie hat sich die Situation der Menschenrechte in Europa in diesem Zeitraum verändert?

Síofra O’Leary: Als ich gewählt wurde, trat ich mein Amt in einer sehr turbulenten Zeit an. Wir hatten eine Abfolge von Krisen: die Migrationskrise, die auf das Jahr 2015 zurückging, die Covid-Pandemie, welche unser aller tägliches Leben betraf und die nationalen und internationalen Gerichte unter Druck brachte. Und dann hat die russische Invasion in der Ukraine im Februar 2022 zum Ausschluss der Russischen Föderation aus dem Europarat geführt. All das hatte erhebliche Auswirkungen auf den Gerichtshof und die Organisation seiner Arbeit. Aber bei einem solchen Gerichtshof gibt es nie ruhige Zeiten, weil wir uns immer mit topaktuellen Fragen beschäftigen, die die Gesellschaft in den 46 Europaratsstaaten insgesamt betreffen.

Wo sehen Sie die größten Bedrohungen für die Menschenrechte?

An Europas Grenzen ist eine beispiellose Situation eingetreten: Ein Europaratsstaat marschierte in einem anderen ein; mit dem ersten Ausschluss seit Gründung des Europarats wurden aus 47 Mitgliedstaaten 46. Der Gerichtshof steht vor einer Reihe von Herausforderungen: Wir haben mehr als 10.000 Staatenklagen im Zusammenhang mit den Auseinandersetzungen zwischen Aserbaidschan und Armenien um Bergkarabach und zwischen der Ukraine und Russland anhängig. Auch die Migration ist in vielen Staaten ein heikles Thema. Hier trifft der Gerichtshof sehr sorgfältig sehr wichtige Entscheidungen, die auf Artikel 3 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK), das Verbot von Folter und unmenschlicher Behandlung, und auf Artikel 8, das Recht auf Privat- und Familienleben, gestützt sind. Diese Einzelfallentscheidungen werden auf nationaler Ebene oft völlig falsch verstanden.

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