Krieg im Nahen Osten

„Wir sind im Krieg“: Der Tag, an dem die Hamas Israel überrannt hat

Ein kleiner Junge inmitten der Trümmer eines durch israelische Luftangriffe zerstörten Gebäudes in Gaza.
Ein kleiner Junge inmitten der Trümmer eines durch israelische Luftangriffe zerstörten Gebäudes in Gaza.APA / AFP / Mohammed Abed
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Militante Palästinenser starten eine „Militäroperation“ und feuern in einer Überraschungsattacke zahlreiche Raketen auf Israel ab. Fast 200 Palästinenser und mindestens 100 Israelis wurden getötet. Die Hamas hat zudem mehrere israelische Soldaten entführt.

Bei den Großangriffen aus dem Gazastreifen auf Israel sind mindestens 100 Menschen getötet worden. Dies berichteten israelische Medien am Samstag unter Berufung auf medizinische Kreise. Rund 900 weitere seien verletzt worden. Bei israelischen Gegenangriffen im Gazastreifen wurden 198 Menschen getötet und mehr als 1.600 verletzt. Das teilte das Gesundheitsministerium im Gazastreifen am Samstag mit.

Nach massiven Angriffen aus dem palästinensischen Gazastreifen auf Israel hatte die israelische Armee am Samstag erklärt, sich im „Kriegsmodus“ zu befinden. Das Militär reagierte damit auf Überraschungsangriffe militanter Palästinenser mit Hunderten von Raketen sowie das Eindringen bewaffneter Kämpfer aus dem Gazastreifen nach Israel.

Die Israelis sind Einsatzkräften zufolge vor allem durch Schüsse getötet worden, berichtete der Rettungsdienst Magen David Adom. Unter den Todesopfern sei auch ein Sanitäter. Der Rettungsdienst habe zudem Hunderte Verletzte behandelt. Zuvor hatten israelische Medien die Zahlen unter Berufung auf Magen David Adom veröffentlicht. Demnach gab es auch mindestens 70 Schwerverletzte.

Israelische Soldaten entführt

Aus Kreisen der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas-Organisation verlautete, es seien auch Israelis in den Küstenstreifen entführt worden. Dafür gab es aber von Seiten der israelischen Armee zunächst keine Bestätigung. Der bewaffnete Arm der Hamas veröffentlichte jedoch ein Video von Kämpfern mit drei Gefangenen in Zivilkleidung. Laut einem Videokommentar handelt es sich um Mitglieder der Al-Qassam-Brigaden, die „mehrere feindliche Soldaten“ im Kampf gefangen genommen hätten. Hebräische Schrift im Hintergrund deutet darauf hin, dass die Aufnahmen auf der israelischen Seite des Eretz-Grenzübergangs zum Gazastreifen aufgenommen wurden. Laut einem Bericht des TV-Senders Reshet werden 13 israelische Geiseln in der südisraelischen Stadt Ofakim von palästinensischen Kämpfern festgehalten.

Am Samstagnachmittag bestätigte ein Sprecher der israelischen Armee Entführungen von Israelis durch Hamas-Kämpfer in den Gazastreifen. Unter den Entführten seien auch Soldaten, so der Sprecher, ohne Angaben zur Zahl der Entführten zu machen.

Die Hamas hatte nach den massiven Angriffen den Beginn einer Militäroperation gegen Israel erklärt. „Wir sind im Krieg und wir werden gewinnen“, erklärte Israels Ministerpräsident Benjamin Netanjahu in einer Video-Botschaft. „Unser Feind wird einen Preis bezahlen, wie er ihn noch niemals kennengelernt hat.“ Netanjahu wollte im Verlauf des Tages Sicherheitsberatungen mit Vertretern des Verteidigungsministeriums und der Armee abhalten. Die Ausrufung des Kriegszustandes ermöglicht es der israelischen Armee, außergewöhnliche Schritte zu ergreifen und Reservisten zu mobilisieren.

„Hamas hat heute Morgen einen großen Fehler begangen“

Der israelische Verteidigungsminister Yoav Galant sagte: „Die Hamas hat heute Morgen einen schweren Fehler begangen und einen Krieg gegen den Staat Israel begonnen.“ Israelische Soldaten kämpften „an allen Stellen, an denen eingedrungen wurde“. Er rief die Bürger dazu auf, den Anweisungen der Behörden Folge zu leisten und sagte: „Israel wird diesen Krieg gewinnen.“

Man habe beschlossen, israelischen „Verbrechen“ ein Ende zu setzen, sagte der Hamas-Militärchef Mohammed Deif. Israel konterte mit Gegenangriffen. Dutzende Kampfjets hätten Ziele im Gazastreifen angegriffen, teilte die Armee mit. Nach Angaben des Gesundheitsministeriums im Gazastreifen wurden dabei seit dem Morgen mindestens 22 Palästinenser getötet und Dutzende verletzt. Die Armee teilte mit, es seien 17 Militäranlagen und vier Kommandozentren der im Gazastreifen herrschenden islamistischen Hamas angegriffen worden. Die Palästinenser-Miliz Islamischer Jihad ist nach eigenen Angaben mit Kämpfern an dem Hamas-Angriff auf Ziele in Israel beteiligt.

Angriffe über Land, See und Luft

Die bewaffneten Palästinenser sind nach israelischen Armeeangaben am Samstag über Land, See und Luft nach Israel eingedrungen. Der israelische Armeesprecher Richard Hecht sagte Journalisten, es gebe momentan Kämpfe mit israelischen Soldaten an verschiedenen Orten im Umkreis des Gazastreifens. Darunter seien zwei Militärbasen, der Eretz-Übergang zum Gazastreifen sowie mehrere Ortschaften. Es gebe Opfer auf israelischer Seite, man könne aber noch keine Zahlen nennen. Es seien mehr als 2200 Raketen auf israelische Ortschaften abgefeuert worden. Hecht sagte, Israel habe als Reaktion auf die massiven Angriffe aus dem Palästinensergebiet die Operation „Eiserne Schwerter“ gestartet. Die Armee sei dabei, Tausende von Reservisten zu mobilisieren.

Hecht sagte, man sei auch auf mögliche Angriffe an Israels Nordgrenze vorbereitet. Dort im benachbarten Libanon ist die pro-iranische Hisbollah aktiv, die genauso wie die Hamas Israel das Existenzrecht abspricht. Hecht betonte, die Proteste gegen die Justizreform in Israel habe keinerlei Auswirkungen auf die Bereitschaft der Armee. „Jeder, der eingezogen wird, wird kommen“, sagte der Militärsprecher. „Dies ist ein schlimmer Moment für Israel.“

Mehrere Tote und Verletzte, in Tel Aviv brennt ein Haus

In verschiedenen Städten Israels hatten die Warnsirenen geheult, wie die Armee mitteilte. Auch in Tel Aviv war Raketenalarm zu hören gewesen. Das Militär rief die Einwohner der südlichen und zentralen Landesteile auf, in geschützten Bereichen zu bleiben. Israel feiert gerade das jüdische Fest Simchat Tora (Freude der Tora).

Der Rettungsdienst Magen David Adom teilte mit, eine etwa 60 Jahre alte Frau sei bei einem direkten Treffer nahe Gedera tödlich verletzt worden. Zwei Menschen hätten bei den Angriffen aus Gaza schwere Verletzungen erlitten. Laut Rettungsdienst wurden weitere Menschen im Süden und in der Küstenebene in Krankenhäuser gebracht.

Auch in der Küstenmetropole Tel Aviv wurde nach Armeeangaben ein Haus getroffen. Es war zunächst unklar, ob es dabei Verletzte gab. Der Rettungsdienst rief wegen eines Mangels an Blutkonserven zu dringenden Blutspenden im Ichilov-Krankenhaus in Tel Aviv auf. Sanitäter berichteten außerdem von Verletzten bei den Raketenangriffen im Bereich der Ortschaften Ashkelon, Gedera und Javne.

Schüsse auf Passanten

Israelische Medien berichteten, dass Bewaffnete in der südisraelischen Stadt Sderot das Feuer auf Passanten eröffnet hätten. In mehreren Städten im Süden Israels gebe es Feuergefechte zwischen palästinensischen Angreifern und israelischen Sicherheitskräften. Dabei wurde der Präsident des Regionalrats der israelischen Grenzorte nordöstlich des Gazastreifens getötet. Ofir Liebstein sei „bei einem Schusswechsel mit Terroristen“ getötet worden, teilte der Regionalrat von Shaar Negev am Samstagmorgen mit.

Der massive Angriff aus dem Gazastreifen kam unerwartet. Die Lage besonders im besetzten Westjordanland hatte sich allerdings zuletzt wieder zugespitzt. Seit Donnerstag waren dort vier Palästinenser bei eigenen Anschlägen oder Konfrontationen mit der Armee getötet worden.

Sicherheitslage seit langem angespannt

Die Sicherheitslage in Israel und dem Westjordanland ist seit langem angespannt. Seit Jahresbeginn wurden 27 Israelis, eine Ukrainerin und ein Italiener bei Anschlägen getötet. Im selben Zeitraum kamen mehr als 200 Palästinenser bei israelischen Militäreinsätzen, Konfrontationen oder nach eigenen Anschlägen ums Leben.

Israel hatte 1967 das Westjordanland und Ost-Jerusalem erobert. Die Palästinenser beanspruchen diese Gebiete für einen unabhängigen Staat Palästina mit dem arabisch geprägten Ostteil Jerusalems als Hauptstadt.

Gewaltsame Proteste an der Grenze zum Gazastreifen

An der Gaza-Grenze war es im vergangenen Monat mehrfach zu gewaltsamen Protesten gekommen. Dabei wurden auch Sprengsätze auf Soldaten geworfen, mehrere Palästinenser wurden durch Schüsse verletzt. Die israelische Luftwaffe griff angesichts der Vorfälle mehrmals Posten der im Gazastreifen herrschenden militanten Palästinenser-Organisation Hamas an.

Im Gazastreifen leben mehr als zwei Millionen Menschen nach UNO-Angaben unter sehr schlechten Bedingungen. Die von EU, USA und Israel als Terrororganisation eingestufte Hamas hatte 2007 gewaltsam die alleinige Macht an sich gerissen. Israel verschärfte daraufhin eine Blockade des Küstengebiets, die von Ägypten mitgetragen wird.

(APA/dpa/Reuters/AFP)

Acht Fakten über die radikale Palästinenser-Gruppe Hamas

1) Die Hamas hat sich die Zerstörung Israels zum Ziel gesetzt und kämpft für die Errichtung eines islamischen Staats.

2) Das Wort Hamas ist eine Abkürzung für Islamische Widerstandsbewegung, bedeutet aber auch „Eifer“ auf Arabisch.

3) Westliche Staaten stufen die Hamas als Terrorgruppe ein.

4) Die Hamas besteht aus unterschiedlichen militärischen Gruppierungen, darunter die Qassam-Brigaden, die in den vergangenen Jahren viele Angriffe und Selbstmordattentate auf Israel verübt haben. Die Organisation umfasst auch eine politische Partei und Hilfsorganisationen.

5) Die Gruppe unterhält im Gazastreifen ein breites Netz an Schulen und sozialen Einrichtungen, womit sie sich in der Bevölkerung Sympathien und Zulauf sichert.

6) Die Hamas entsteht während der ersten Intifada (Palästinenseraufstand) 1987. Als radikaler Arm der Palästinenser lehnt sie den Friedensvertrag von Oslo ab, den Palästinenser-Präsident Yasser Arafat 1993 mit Israel schloss. Nach dem Tod von Arafat schlossen Palästinenser-Präsident Mahmoud Abbas und Israels damaliger Ministerpräsident Ariel Sharon 2005 einen Waffenstillstand, den die Hamas größtenteils einhielt.

7) Bei der Parlamentswahl 2006 im Gaza-Streifen errang die radikale Gruppe einen überwältigenden Sieg über die Fatah-Bewegung von Abbas. Der Westen erkannte das Ergebnis nicht an und zwang die Hamas in eine Regierung der Nationalen Einheit mit der Fatah.

8) In einem kurzen Bruderkrieg gegen die Fatah riss die Hamas 2007 die Macht im Gazastreifen an sich. Eine demokratische Legitimierung der Palästinenservertretung gibt es seitdem nicht mehr.

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