Terror

Israel steckt im Geiseldilemma

Dokumentation einer verzweifelten Verteidigung: Israelische Soldaten im Ort Kfar Azza, wo mehr als hundert Menschen ermordet und sehr viele entführt wurden.
Dokumentation einer verzweifelten Verteidigung: Israelische Soldaten im Ort Kfar Azza, wo mehr als hundert Menschen ermordet und sehr viele entführt wurden. AP/Ohad Zwigenberg
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150 Geiseln, darunter Kinder und Greise, befinden sich in der Gewalt von palästinensischen Hamas-Terroristen. Kann Israel sie befreien?

Tel Aviv/Wien. Abbey Onn hat auf einen Schlag sechs Verwandte verloren. Sie alle lebten in einem Kibbuz in Südisrael, der am Samstag von mordenden palästinensischen Hamas-Terroristen überfallen wurde. Onn kommunizierte noch mit ihrer Cousine Carmela Dan (80) via WhatsApp, als sich die Verwandten in ihrem Haus verschanzten. Dann brach der Kontakt ab. Seitdem sind Carmela, ihr Schwiegersohn und ihre Enkel, 16, 13 und zwölf Jahre alt, verschwunden. Später sah Onn ein Video, auf dem ein Mann den zwölfjährigen Erez mit Gewalt wegzerrte. „Ich begann zu zittern“, sagte sie dem US-Sender NBC. „Ich selbst habe drei Kinder.“

Onn wartet verzweifelt auf Nachrichten, ebenso wie die Angehörigen von mehr als hundert anderen Geiseln. In Israel werden Eltern laut CNN auf mögliche Hamas-Videos vorbereitet, „in denen Geiseln um ihr Leben betteln“. Vermisst wurden auch drei israelisch-österreichische Staatsbürger. Es handelt sich um drei Männer, die schon länger in Israel leben.

1 Was weiß man derzeit über die Geiseln, und wo hält sie die Hamas gefangen?

Zuletzt hieß es, entführt wurden mindestens 150 Personen, darunter Kinder und ältere Menschen. Die meisten Gekidnappten stammen aus kleinen Grenzortschaften in Südisrael, oder sie haben an einem Musikfestival in der Gegend teilgenommen. Andere waren Friedensaktivisten, die nahe Gaza arbeiteten und für palästinensische Rechte kämpften. Doch auch zahlreiche Nichtisraelis – aus Asien, den USA und EU-Ländern – wurden entführt. Verzweifelte Verwandte teilen Fotos und Videos in sozialen Medien, in der Hoffnung, ein Lebenszeichen zu erhalten. Doch keiner weiß, wo sich diese Menschen befinden. Man vermutet sie in der von der Hamas kontrollierten Palästinenserstadt Gaza: Ein Sprecher der Gruppe gab auf Telegram bekannt, dass „Dutzende Opfer in Häusern und unseren Tunneln des Widerstands“ festgehalten werden. In jenen unterirdischen Tunneln werden unter anderem Waffen aus dem Ausland nach Gaza geschmuggelt. Ob bereits Geiseln ermordet wurden, bleibt offen.

2 Was bezweckt die Terrorgruppe Hamas mit den Geiselnahmen?

In der perfiden Logik der Terrororganisation sind die verschleppten Israelis nur menschliche Schutzschilde, Verhandlungsmasse und wohl auch Propagandamaterial. Am Montagabend drohte die Hamas damit, jedes Mal eine Geisel zu ermorden, wenn ein Zivilist im Gazastreifen durch ein Bombardement ohne Vorwarnung getötet werde. Die Hinrichtungen würden öffentlich übertragen, „in Bild und Ton“. Die Geiseln, fürchten Experten, würden auch sonst als menschliche Schutzschilde missbraucht, indem die Hamas die Israelis im Unklaren über deren Verbleib lässt. Das Kalkül dahinter: Die Gefahr, eine Geisel zu töten, soll die Israelis zur militärischen Zurückhaltung zwingen. Der Hamas könnte es außerdem um einen Gefangenenaustausch gehen. Zumindest nannte der vor Jahren abgetauchte Anführer des militärischen Arms der Hamas, Mohammed Deif, die Tausenden Gefangenen in Israel als einen Grund für den terroristischen Angriff. Mehr als 5200 Palästinenser sitzen momentan in israelischen Gefängnissen.

3 Welche Optionen hat Israel, und was sind die Prioritäten bei den nächsten Entscheidungen?

Die Rückholung von Geiseln hat im Staat Israel eine herausragende Bedeutung. Und die Hamas weiß das. Kein Israeli wird zurückgelassen, lautet das Grundprinzip, an dem die Regierung immer wieder festgehalten hat. 2011 zum Beispiel, als die Regierung 1000 palästinensische Häftlinge für einen einzigen israelischen Soldaten freiließ: Der Fall des jungen Rekruten Gilad Shalit ging um die Welt. Am Anfang des Libanon-Kriegs 2006 stand die Entführung von zwei israelischen Soldaten, deren Leichname 2008 im Austausch für fünf Gefangene nach Israel überführt wurden. Aber dieser Fall liegt anders, wegen der schieren Zahl an Geiseln. Und der monströsen Dimension des Hamas-Terrors. Die Zeichen stehen laut Experten momentan eher auf Sturm, Befreiungsversuche sind wahrscheinlicher als Verhandlungsversuche. Selbst wenn die Katarer behaupten, zwischen Israelis und Hamas den Austausch von Frauen und Kindern zu vermitteln, könnte Israel Spezialkommandos schicken. Aber die Aussichten auf Erfolg in mehr als nur einigen Fällen wären gering und die Risiken gewaltig, auch für die Leben der Geiseln. Eine große Bodenoffensive brächte die Geiseln noch mehr in Gefahr: Israel steckt jedenfalls in einem Dilemma, weil es einerseits einen ganz gewaltigen Vergeltungsschlag samt Zerstörung der Hamas angekündigt hat, andererseits keine Geiseln in Gefahr bringen will.

4 Welche staatlichen Akteure und Staaten setzten in der Vergangenheit Geiseln als „Kriegswaffe“ ein?

Die Entführung von Zivilisten ist eine perfide Kriegstaktik mit langer Tradition: Schon 1972 kidnappten und ermordeten palästinensische Terroristen mehrere israelische Sportler während der Olympischen Sommerspiele in München. Tief ins kollektive Gedächtnis des 20. Jahrhunderts eingeprägt hat sich auch die Geiselnahme von Teheran im November 1979, als iranische Studenten während der Islamischen Revolution die US-Botschaft besetzt und mehrere Monate 52 US-Diplomaten in ihrer Gewalt gehalten haben. Doch auch linksextreme Terrorgruppen, wie die RAF in Deutschland oder die Roten Brigaden in Italien, kidnappten und mordeten. Brutale Videos und Bilder radikal-islamistischer Gruppen, von al-Quaida bis zum Islamischen Staat, prägen hingegen den Geiselterror im 21. Jahrhundert: Viele der Opfer wurden vor laufender Kamera geköpft.

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