Gastkommentar

Polen vor der Wahl: Wie macht man Illiberalismus rückgängig?

Peter Kufner
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Sollte am 15. Oktober die Opposition gewinnen, wird sie versuchen, das illiberale System abzubauen, das sich in den vergangenen acht Jahren etabliert hat.

Am Ende spielt es keine Rolle, ob es eine Million war oder doch nicht. Der Oppositionsmarsch am 1. Oktober in Warschau war ein großer Erfolg. Das Wetter spielte mit, und die Straßen der polnischen Hauptstadt waren mit Menschenmassen überflutet. Donald Tusk, der frühere Präsident des Europäischen Rates, der vor zwei Jahren nach Polen ­zurückkehrte, um die achtjährige ­Regierungszeit seines Erzfeindes und Konkurrenten Jarosław Kaczyński zu beenden, konnte triumphieren. Der Oppositionsführer hatte zu diesem Aufmarsch bereits im Juni aufgerufen. An jenem Sonntag sprach er von der dritten Solidarność-Welle, die die gebeutelte Demokratie wiederherstellen und die geteilte Nation wieder vereinen würde. Solidarność, die erste und einzige freie Gewerkschaft im kommunistischen Block, wurde 1980 unter dem enormen Druck der Bürger zugelassen. 1989 erkämpfe sie die Freiheit und Demokratie in Polen und trug zum Fall des Kommunismus bei. Nun soll, so Tusk, die Parlamentswahl am 15. Oktober zu einer ähnlichen Zäsur werden: zu einem neuen Kapitel der Demokratiegeschichte.

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Bilanz eines Staatsstreichs

Nachdem die PiS-Regierung 2015 mit knapp 38 Prozent der Stimmen gewählt worden war, vollzog sie einen regelrechten Staatsstreich gegen die liberal-demokratische rechtsstaatliche Ordnung. Sie entmachtete, politisierte oder korrumpierte die in der Verfassung verankerten Institutionen – Verfassungsgerichtshof, unabhängige Gerichte, öffentliches Fernsehen, Staatsanwaltschaft –, indem die den Liberalismus kennzeichnenden Einschränkungen der Macht zum Schutz der Minderheiten aufgehoben wurden.

Was folgte, lässt sich als eine Tyrannei der (parlamentarischen) Mehrheit bezeichnen. Renommierte Forschungsprojekte wie der Bertelsmann Transformation Index attestierten Polen einen kontinuierlichen Niedergang der demokratischen Standards. Unter Regierung der PiS-Partei sank die Mehrzahl der Messwerte im Bereich politische Transformation ab, zum Teil sogar deutlich: Laut Länderbericht 2022 fiel etwa der Index zur Gewaltenteilung von der Höchstpunktzahl (10) auf nur 5, der Index zur Performanz der demokratischen Institutionen von 10 auf 6 und der Wahlindex von 10 auf 7 Punkte – zum ersten Mal seit 1990. Nach dem 15. Oktober müsste Donald Tusk, sollte er tatsächlich eine Mehrheit hinbekommen, diese Veränderungen rückgängig machen – nicht innerhalb von acht Jahren, innerhalb weniger Monate. Eine Quadratur des Kreises.

Verhärtete Fronten

Ob es tatsächlich so weit kommt, wird aller Wahrscheinlichkeit nach bis zum Wahltag offen bleiben. Die Fronten sind verhärtet, und das Gleichgewicht zwischen der seit 2015 regierenden populistischen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS) und der liberal-demokratischen Opposition ist bemerkenswert stabil. Dass die PiS wieder die absolute Mehrheit gewinnt, scheint unwahrscheinlich, auch wenn sie heute mit 35 Prozent souverän in den Umfragen vorn liegt. Aber auch die Demokraten, die auf drei Listen antreten (Tusks Bürgerkoalition, die Linke und der liberal-konservative Dritte Weg), können sich des Wahlerfolgs nicht sicher sein.

Donald Tusk ist ein starker Führer, dessen Position in der Partei und unter den liberalen Wählern unangefochten bleibt. Gleichzeitig wirkt er für viele, auch für oppositionelle Wähler, wie ein rotes Tuch. Seine negative Wählerschaft – also jene, die ihn unter keinen Umständen wählen will – ist so groß wie die seines Konkurrenten Kaczyński. Dass er, von dem Marsch am vergangenen Sonntag beflügelt, die gläserne Decke von 30 Prozent durchbricht, mag sich als Wunschdenken er­weisen, eine realistische Möglichkeit besteht jedoch. Um den angestrebten und erträumten Machtwechsel zu vollziehen, könnte Tusk aber nicht nur auf die Zusammenarbeit mit den kleineren Partnern angewiesen bleiben, sondern auch auf einen Teufelspakt mit der rechtsextremen Konfederacja.  

Neues Kapitel aufschlagen

Sollte es den polnischen Demokraten gelingen, nach dem 15. Oktober an die Macht zu kommen – mit oder ohne eine Kooperation mit den Rechtsextremen – werden sie ein neues Kapitel der europäischen Demokratiegeschichte aufschlagen. Die aktuelle Opposition wird vor einer Aufgabe stehen, der sich noch keiner stellen musste: Sie wird den Versuch unternehmen, ein illiberales System abzubauen, das in den vergangenen acht Jahren mit scheinbar demokratischen Mitteln etabliert wurde.

Die europäische Geschichte kennt viele Beispiele politischer Transformation hin zur Demokratie, sowohl von rechtem Autoritarismus (Portugal, Spanien, Griechenland) als auch von Kommunismus (ehemaliger Ostblock) oder besiegtem Nationalsozialismus (Deutschland, Österreich). Die Überwindung eines illiberalen Systems, das den Schein der Demokratie aufrechterhält, käme aber dem Betreten von Neuland gleich.

Das aktuelle, illiberale System entstand mithilfe augenscheinlich rechtmäßiger, faktisch aber verfassungswidriger Gesetze. Der Verfassungsgerichtshof wurde mit PiS-treuen Apparatschiks besetzt, der Oberste Gerichtshof mit Personen, die, laut europäischen Gerichten, keine unabhängigen Richter sind. Dass es deshalb keine unabhängige Instanz mehr gibt, die das politische Handeln zu kontrollieren imstande ist, stellt für eine mögliche neue Regierung eine Herausforderung dar.

Wie stellt man die rechtsstaatlichen Prinzipien wieder her, ohne sie zugleich zu verletzen?

An der Grenze der Legitimität

Die Reformschritte einer neuen Regierung brauchen Kontroll­instanzen, die mit ihrer Autorität den rechtmäßigen Weg beim Wiederaufbau der liberalen Ordnung weisen. Denn auf welcher rechtlichen Grundlage soll der institutionelle Umbau stattfinden? Rechtfertigt die außerordentliche Lage ungewöhnliche Mittel, vielleicht sogar an der Grenze der Legitimität? Diese richtungsweisenden Fragen stellten sich, wohlgemerkt, in einer äußerst angespannten politischen Lage: mit einer starken, feindlich eingestellten PiS-Opposition und dem ihr zugeneigten Präsidenten, Andrzej Duda (bis Mitte 2025 im Amt), der mit seinem Veto jedes Gesetzesvorhaben verhindern könnte.

Den Illiberalismus mit liberalen Mitteln zu überwinden, wird eine Aufgabe sein, die nicht nur politischen Mut, sondern auch Durchsetzungskraft erfordert. Ob eine neue polnische Regierung in der Lage sein wird, diese an den Tag zu legen und sich dem zu erwartenden starken Gegenwind zu stellen, bleibt abzuwarten. Europa sollte diesen Kampf aber genau verfolgen, da sein Ausgang auch die politische Zukunft des Kontinents maßgeblich prägen wird.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Piotr Buras.
Piotr Buras.Beigestellt

Der Autor

Piotr Buras (*1974) ist Journalist, Autor und seit 2013 Direktor des Warschauer Büros des Thinktanks European Council on Foreign Relations (ECFR). Von 2008 bis 2012 arbeitete er als Korrespondent der größten polnischen Tageszeitung, „Gazeta Wyborcza“. Er begann seine Karriere Ende der 1990er-Jahre am Center for International Relations in Warschau, einem der ersten polnischen Thinktanks. Danach war er am Institut für Deutschlandstudien der Universität von Birmingham und der Universität Breslau sowie Visiting Fellow der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin.

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