Gastkommentar

Sahra Wagenknecht will es wissen

Peter Kufner
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Neue Kraft? Die Gründung einer Partei jenseits herkömmlicher Links-rechts-Muster könnte eine Lücke in der deutschen Politik schließen.

Die Würfel sind nun gefallen. Nach längerem Zögern erklärte die deutsche Politikerin Sahra Wagenknecht diesen Oktober auf der Bundespressekonferenz: „Wir haben uns zur Gründung einer neuen Partei entschlossen entschieden, weil wir überzeugt sind, so, wie es derzeit läuft, darf es nicht weitergehen.“ Wagenknecht, Tochter eines iranischen Vaters und einer deutschen Mutter, ist eine charismatische Politikerin, die sich grundlegend gewandelt hat. Wagenknecht, noch 1989 in die SED eingetreten, machte schnell Karriere in der Partei Die Linke. Einst der führende Kopf der Kommunistischen Plattform, opponierte sie 2001 gegen eine Erklärung des Parteivorstands zur Verurteilung des Mauerbaus. Von 2004 bis 2009 Mitglied im Europäischen Parlament, gehört sie seither dem Bundestag an, zwischen 2015 und 2019 als Fraktionsvorsitzende. Wagenknecht entfremdete sich immer mehr von ihrer Partei durch deren Vorstellungen zur Migrationspolitik. Ihre 2018 ins Leben gerufene überparteiliche Sammlungsbewegung Aufstehen scheiterte schon nach kurzer Zeit. Wagenknechts begnadete Eloquenz übertrifft ihre Organisations- und Teamfähigkeit bei Weitem. Für den Erfolg einer Parteigründung sind auch dies wichtige Kriterien.

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Die Politikerin wendet sich seit Jahren heftig gegen offene Grenzen und damit gegen die Aufnahme von zu vielen Migranten. Mit ihrem Besteller „Die Selbstgerechten“ von 2021 sorgte sie für Furore. Ihre flammende Kritik an der Identitätspolitik stieß in weiten gesellschaftlichen Teilen auf Zustimmung. Sie wetterte gegen eine urbane „Lifestyle-Linke“, die auf Multikulturalismus setze, aber das Schicksal unterer sozialer Schicksale ignoriere. Dem Nationalstaat schwor sie nicht ab, wohl aber dem Gendern. In diesem Buch, das einem Paukenschlag gleichkam, plädierte sie für Linkskonservatismus.

Mit der Partei Die Linke, der Wagenknecht von Anfang an angehört hatte, war aus ihrer Sicht nicht mehr viel Staat zu machen – und die Ergebnisse gaben ihr recht. Bei den Landtagswahlen in Hessen und in Bayern im Oktober erreichte Die Linke 1,5 und 3,1 Prozent. Damit verlor sie mehr als die Hälfte ihrer Stimmen im Vergleich zum letzten Mal. Zum elften und zwölften Mal bei Wahlen hintereinander schlechter abgeschnitten als zuvor, ist die Partei, 2021 mit 4,9 Prozent nur dank dreier Direktmandate in den Bundestag gelangt, nunmehr in keinem westdeutschen Flächenstaat mehr parlamentarisch vertreten.

AfD light bis Kommunismus

Es verwunderte daher nicht, dass Sahra Wagenknecht bald nach den bayrischen und hessischen Wahlen mit neun anderen Abgeordneten ihrer Fraktion Die Linke verließ und für Anfang 2024 die Gründung einer neuen Partei verkündete. Bis dahin will sie mit den übrigen „Abtrünnigen“ in der Fraktion Die Linke bleiben.

Das Gründungsmanifest vom Bündnis Sahra Wagenknecht stellt vier Grundsätze in den Vordergrund: wirtschaftliche Vernunft, soziale Gerechtigkeit, Frieden und Freiheit. Mit wirtschaftlicher Vernunft ist fairer Wettbewerb gemeint, der einen starken Mittelstand zulässt. Die Energieversorgung lasse sich nicht allein durch erneuerbare Energie sichern. Soziale Gerechtigkeit strebt gesellschaftlichen Zusammenhalt an, der auf einem gerechten Steuersystem fußt. Was das Stichwort „Frieden“ betrifft, stellt sich die Partei in die Tradition Willy Brandts. Sie lehnt jeglichen Einsatz deutscher Soldaten in internationalen Kriegen ab und widerstreitet US-amerikanischen Interessen. Mit Blick auf Freiheit heißt es: „Konformitätsdruck und die zunehmende Verengung des Meinungsspektrums“ stehen in einem Gegensatz zu einer freien Gesellschaft. Die neue Kraft ist damit wirtschafts- und sozialpolitisch links, hingegen konservativ gesellschaftspolitisch.

Sie greift folglich Programmpunkte auf, die sich einer herkömmlichen politischen Einordnung entziehen. Was ungeachtet mancher Unterstellungen zutrifft: Wagenknecht ist längst keine in der Wolle gefärbte Kommunistin mehr, aber ebenso ist ihre Position mit dem Etikett „AfD light“ höchst unzureichend umschrieben. Die Gratwanderung für sie besteht nun darin, Personen aus unterschiedlichen politischen Lagern zusammenzuführen und für sich zu gewinnen, nicht nur als Wähler, sondern auch als Mitglieder.

Wie stehen die Chancen?

Was wohl niemand wissen kann und die Gemüter nicht nur in den etablierten Parteien bewegt: Wie ist es um die Chancen einer solchen Partei im Jahr 2024 bestellt? Viele Unwägbarkeiten spielen mit: Findet Sahra Wagenknecht bekannte Namen außerhalb des eigenen Milieus? Gelingt der Aufbau einer funktionsfähigen Organisation? Wie verhält sich die etablierte Politik zu dieser Partei? Lassen sich Glücksritter fernhalten?

Last, not least: Vermag Wagenknecht Wähler aus allen politischen Lagern für sich zu gewinnen? Nach Umfragen hält fast jeder Zweite eine solche Partei für sinnvoll, fast jeder Dritte könnte sich vorstellen, für sie zu votieren, und mehr als zehn Prozent erklärten, ihr die Stimme zu geben. Die Motive, in dieser Reihenfolge: Enttäuschung über andere Parteien, die Person Wagenknecht, die Defizite der Migrationspolitik.

Sollte die Wagenknecht-Kraft bei den Europawahlen im Juni auf Anhieb tatsächlich zehn Prozent erreichen, wäre mit einer Steigerung bei den drei Landtagswahlen im Spätsommer 2024 in Brandenburg, Sachsen und Thüringen zu rechnen. Das Unzufriedenheitspotenzial ist hier höher. Die Partei hofft auf den Zulauf von Nichtwählern und auf einen Einbruch beim Elektorat der AfD: In der Tat muss die AfD mit ihren vielen Protestwählern am meisten die Existenz einer Wagenknecht-Partei fürchten. Koalitionen mit den Grünen und der AfD schließt die Politikerin zwar aus, aber sie möchte die Politik verändern, und das gehe nur als Regierungskraft.

Populistische Parolen

Das Neue an einer solchen Partei für Deutschland, die erfolgreich sein könnte: Sie ist auf eine Person fixiert, der nachgesagt wird, populistische Parolen zu popularisieren. Im Namen der neuen Partei soll der Name Wagenknechts vorkommen, um einen Wiedererkennungswert zu gewährleisten. Die Schill-Partei und das Team Todenhöfer entpuppten sich als Eintagsfliegen. In anderen Ländern wie Frankreich, Italien und den Niederlanden sind aufstrebende Parteien, die auf das Charisma einer Person abstellen, schon längst keine Seltenheit mehr. Und in Österreich gab es eine – erfolgreiche – Liste Sebastian Kurz, allerdings auch ein weniger erfolgreiches Team Stronach.

Unabhängig davon, ob eine solche Kraft nicht nur im Osten, was wahrscheinlich ist, sondern auch im Westen auf gewisse Zustimmung stößt: Das Parteiensystem der Bundesrepublik Deutschland ist fast 75 Jahre nach der Gründung damit auf dem Weg, fragmentierter und polarisierter zu werden, zumal sich die Freien Wähler mit Hubert Aiwanger nach ihrem Wahltriumph in Bayern mit 15,8 Prozent Chancen ausrechnen, in den Bundestag einzuziehen. Die beschaulichen Zeiten der 1960er- und 1970er-Jahre mit drei Bundestagsparteien sind längst vorbei.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Der Autor:

Eckhard Jesse (* 1948) ist em. Prof. an der TU Chemnitz. Er fungierte von 2007 bis 2009 als Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Politikwissenschaft. Der Mitherausgeber des „Jahrbuchs Extremismus & Demokratie“ zählt als Parteien- und Wahlforscher zu den bekanntesten Politikwissenschaftlern.

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