Gastkommentar

Orbáns doppeltes Spiel

Ungarns Premierminister Viktor Orbán am 14. Dezember vor dem EU-Gipfel in Brüssel.
Ungarns Premierminister Viktor Orbán am 14. Dezember vor dem EU-Gipfel in Brüssel. APA / AFP / John Thys
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Europa braucht eine Strategie, um mit Orbáns Radikalisierung umzugehen.

Auf einer Parteiveranstaltung im Jahr 2009 sprach sich Ungarns Ministerpräsident Viktor Orbán, damals Oppositionsführer, für die Schaffung eines „zentralen politischen Kräftefelds“ aus, das Ungarn in den nächsten 20 Jahren bestimmen sollte. 

Als Orbán 2010 nicht lange nach dieser Rede zurück an die Macht gelangte, veranschaulichte er, wie sein „Kräftefeld“ auch Ungarns strategische Bündnisbeziehungen verändern würde. Von Anfang an verlagerte er den Schwerpunkt der Beziehungen von Washington, Brüssel und Berlin auf eine neue Dreiergruppe von Mächten: Berlin, Moskau und Istanbul. Als Oppositionsführer übte Orbán 2008 scharfe Kritik an Russlands Einmarsch in Georgien und sprach von einer „imperialistischen Aktion reiner Machtpolitik“ – bevor er zwei Jahre später auf einen Kurs der Annäherung an Russland einschwenkte.

Öffnung nach Osten

Diese Öffnung nach Osten zielte darauf ab, mehr Einfluss zu gewinnen, als es die Größe und die wirtschaftliche Stärke Ungarns rechtfertigten. Schon bald wurde allerdings deutlich, dass die Errichtung dieses „Kräftefelds“ nicht einfach um den Preis der Beziehungen zu den westlichen Verbündeten des Landes erreicht werden konnte. Es begann ein Tanz zwischen allen Mächten, der dazu führte, dass sich Ungarn zunehmend den Autokratien im Osten zuwandte, während gleichzeitig der Spagat mit Verpflichtungen gegenüber dem Westen, einer Mitgliedschaft in der Nato und der Europäischen Union vollzogen wurde, mittels derer Ungarn Macht ausübt, dank seiner Vetofähigkeit bei wichtigen politischen Entscheidungen.

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Erst als Orbán begann, dieses Druckmittel regelmäßig einzusetzen, nahmen die EU-Führungskräfte das doppelte Spiel seiner Regierung zur Kenntnis. Im Jahr 2020 drohte er mit einem Veto gegen den Wiederaufbaufonds für die Zeit nach Corona, einer zentralen Angelegenheit für alle 27 Mitgliedstaaten. Die strengere Haltung der EU gegenüber Budapest hatte letztendlich zur Folge, dass die EU-Finanzierung für Ungarn in Höhe von über 30 Milliarden Euro aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit ausgesetzt wurde – Gelder, die dringend benötigt werden, um das steigende Haushaltsdefizit, eine Staatsverschuldung von über 70% und die umfangreiche Zuwendung staatlicher Mittel an Fidesz-Wahlkreise im Vorfeld der Wahlen 2022 zu decken.

Geschickt kalkuliert

Meist hat Orbán geschickt kalkuliert, wie weit er die EU zu seinem eigenen Vorteil einspannen kann. Zu einigen ihrer Bedenken legte er Lippenbekenntnisse ab, während er im eigenen Land eine aggressive Anti-Europa-Kampagne lancierte, die sich gegen EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Alexander Soros richtete, den Sohn von Orbáns langjährigem Feind George Soros. Offenbar sieht er sich nun in der Position, im Namen Ungarns bis zu 10 Milliarden Euro der ausgesetzten EU-Mittel abzurufen, was bemerkenswerter Weise durchaus korrekt zu sein scheint. Ein solcher Schachzug vor der EU-Gipfelkonferenz in dieser Woche würde Ungarns Ministerpräsident einen diplomatischen Vorteil bei der sogenannten „Brüsseler Elite“ verschaffen und sein anhaltendes autoritäres Vorgehen rechtfertigen.

In diesem Licht könnte Orbán als bedeutender Akteur in der internationalen Politik erscheinen, der durchsetzt, was ihm passt – zum Wohl des ungarischen Staates. Doch aus Sicht der EU und des Westens ist es beunruhigend, dass Orbans doppeltes Spiel mit einer Beschneidung demokratischer Freiheiten und einem harten Vorgehen gegen seine Kritiker im eigenen Land einhergeht.

Erst letzte Woche erließen staatliche Behörden in Ungarn umfangreiche Geldstrafen gegen Oppositionsparteien und legten so politische Kontrahenten in ihren Bestrebungen lahm, Orbán bei den Europa- und Kommunalwahlen im Juni 2024 herauszufordern. Zudem hat die Fidesz-Regierung ein drakonisches Gesetzespaket mit der Bezeichnung „Gesetz zur Verteidigung der Souveränität“ vorgelegt, mit dem neben den bestehenden staatlichen Nachrichtendiensten ein mit weitreichenden Befugnissen ausgestattetes Amt für die Verteidigung der Souveränität geschaffen wird, um willkürlich jede Organisation oder Person ins Visier zu nehmen, die im Verdacht steht, „ausländischen Interessen“ zu dienen und Ungarns Souveränität zu gefährden, einschließlich politischer Parteien, regierungsunabhängiger Organisationen, Medien, aber auch Unternehmen, Kirchen, Gewerkschaften oder Gemeinden.

Diese dank einer Reihe unlauterer Wahlen erlangte Allmacht ist für Orbán unentbehrlich, um sein „zentrales Kräftefeld“ international auszuweiten. Und solange er nicht befürchten muss, im eigenen Land die Macht zu verlieren, hat er freie Hand, radikale politische Maßnahmen zu instrumentalisieren und Europa zu zwingen, sich seinem Willen zu beugen. Im Vorfeld der Europawahlen positioniert sich Orbán als De-facto-Führer der rechtsextremen euroskeptischen Bewegung, zu der unter anderem Geert Wilders, Marine Le Pen und Giorgia Meloni gehören.

Sein Radikalismus und sein Rückgriff auf autoritäre Methoden verschaffen Orbán ein übermäßiges Mitspracherecht bei der Gestaltung der EU-Politik und zwingen die Gemeinschaft letztlich dazu, seiner Agenda zu folgen: ein Zurückfahren der Unterstützung für die Ukraine bis zu den nächsten EU-Wahlen, in der Hoffnung, dass eine mögliche Trump-Präsidentschaft die Unterstützung für Kiew vollständig beenden und Orbán damit Recht geben wird, dass der Konflikt ein „nicht zu gewinnender“ Krieg ist. 

Orbáns Haltung wird gerne umschifft

Wenn er damit Erfolg hat, wird Orbán nachhaltigen Einfluss auf die strategische EU-Politik ausüben, indem er die Handlungsfähigkeit der Union in wichtigen geopolitischen Fragen untergräbt und sie bis zum Amtsantritt einer neuen, vielleicht weniger entschlussfreudigen Europäischen Kommission im nächsten Jahr in der Schwebe hält.  

Es gibt immer eine Reihe von Ländern, die bereit sind, Orbáns radikale Haltung zu umschiffen, wenn in der EU schwierige Fragen aufgeworfen werden. Kurzfristig mag das nützlich scheinen, doch wenn Orbáns erpresserische Politik zur neuen Spielregel wird, wird die Gemeinschaft ihre Fähigkeit, Probleme zu bewältigen, gänzlich verlieren und auf der Weltbühne bedeutungslos werden. 

In Anbetracht des Verhaltensmusters fragt man sich, ob die Regierenden der EU Orbáns Machtspiele nicht durchschauen und begreifen werden, dass sein zunehmend problematisches Vorgehen in der europäischen Politik direkte Folge seines autoritären Kurses in Ungarn ist. Diese Woche werden wir zusehen, ob er wieder einmal seine Interessen über die der anderen setzt.

Zsuzsanna Szelényi ist Außenpolitikexpertin, ehemalige Abgeordnete in Ungarn und Autorin von „Tainted Democracy: Viktor Orbán and the Subversion of Hungary“ („Zerrüttete Demokratie: Viktor Orbán und die Unterwanderung Ungarns“).

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