Und übrigens ...

„Saltburn“-Hype: Die Jugend ist doch nicht so brav, wie wir dachten

Frivol: Barry Keoghan in „Saltburn“.
Frivol: Barry Keoghan in „Saltburn“.Amazon
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Auf TikTok tobt ein Hype um anzügliche Szenen aus dem Film „Saltburn“. Darf Unterhaltung jetzt wieder stärker über die Stränge schlagen?

Da soll einer schlau werden aus der Generation Z: Kreuzbrav soll sie sein, bei Sexszenen zurückscheuen, moralische Ambivalenz schlecht vertragen. Und dann geht ein Film wie „Saltburn“ auf TikTok viral, worin die Hauptfigur, ein – Achtung, Spoiler! – narzisstischer, manipulativer Parvenü, in hautnaher Großaufnahme genüsslich das spermagetränkte Badewasser eines Objekts seiner sexuellen Obsessionen schlürft. Und aus Neid auf Bessergestellte zum skrupellosen Verbrecher wird. Was jetzt, Gen Z – Zucht oder Unzucht? Entscheidet euch endlich!

Klar: Pauschalurteile über Altersgruppen à la „Die Jugend von heute …“ waren schon immer dubios. Dennoch überrascht der immense (Internet-)Erfolg eines Films, der den gängigen Medienmores der Gegenwart, mit ihren Achtsamkeitsklauseln und ästhetischen Sicherheitsgurten, so sehr zu spotten scheint. Zumindest auf den ersten Blick. Denn auf den zweiten liegt eine Erklärung auf der Hand: Wo Druck ist, entsteht Gegendruck.

Wer Anstandsgebote auch in der Sphäre der Unterhaltung zur Norm erhebt, fordert ihre Verletzung heraus, macht sie umso attraktiver. Hollywood kennt dieses Kulturgesetz nur zu gut: Der als „Hays Code“ bekannte Sittlichkeitskodex, dem sich die Traumfabrik in den 1930ern unterwarf – nicht zuletzt, um ihr verludertes Image aufzuwerten und so Profite zu sichern – hielt dem Wandel der Zeit in einer freien Gesellschaft nicht Stand. Und so wurden strahlende, keusche und artige Leinwandhelden spätestens 1968 von schamlosen Bonnies und Clydes in geklauten Ford Sedans überrollt.

»Hollywoods Sittlichkeitskodex der 1930er hielt dem Wandel der Zeit nicht stand. «

Schon vor der Selbstzensur-Periode des „Hays Code“ war Hollywood recht frivol unterwegs, pikante Anzüglichkeiten galten als Publikumsmagnet. Woraus man ein historisches Muster ableiten könnte, das sich nun vielleicht wiederholt: Die 1990er-Jahre waren im Kino demnach eine Ära des „Anything Goes“, dann folgten lange Jahre der Zügelung und des Verzichts – und jetzt wird wieder lustvoll über die Stränge geschlagen. Weil es der Jugend wieder in den Fingern juckt.

Das passt zur wohlwollenden Wiederentdeckung von Kultserien wie „The Sopranos“ durch Gen Z – komplexe TV-Kreationen voller ungustiöser Antihelden, die heute niemand mehr produzieren würde, wie der Kulturkritiker Peter Biskind unlängst im britischen „Economist“ konstatierte: Aus Angst vor Kontroversen würden die Grenzen des Schreib- und Zeigbaren in Zeiten von Social Media viel enger gesteckt.

Doch ganz so einfach ist es nicht. Es findet eine Diversifizierung statt: Entertainment-Kanäle gibt es wie Sand am Meer. Was möglich ist und was nicht, hängt zusehends von Kontext und Zielpublikum ab. So fanden sich unter den Nominierten der eben verliehenen Emmy-Fernsehpreise notorisch erbauliche Serien wie „Ted Lasso“ ebenso wie die Edel-Seifenoper „Succession“. Deren ruchlose Medienmogul-Familie steht in bester Tradition des „Sopranos“-Senders HBO.

Beim Film verhält es sich ähnlich: Während sich Kino-Blockbuster nach allen Seiten hin absichern müssen, kann „Saltburn“, streambar auf Amazon, seelenruhig in der Schmuddelkiste wühlen. Schließlich wird die Brachialsatire vornehmlich im Netz konsumiert. Und dort gilt seit jeher und bis auf Weiteres: Anything Goes.

E-Mail: andrey.arnold@diepresse.com

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